Die fremdartige Ansiedlung
(Kolonie) im
Hessischen Bergland, das
Langrocksland.
Voller Erstaunen und
auch Schrecken stehen wir oben am Hang, wo die beiden Jungen gerauft hatten,
ja, ja im Spaß, aber doch voller Kräfte, Ausdauer und Heftigkeit, fast Ernst.
Irgendein Lachen war nicht mehr dabei. Langra
war hingefallen und kam ins Rollen den steilen Wiesenhang hinunter. Menno sieht erschreckt hinterher, dem Langra nach, weiß nicht, was er nun tun
sollte. Wir alle stehen oben, und der Schrecken wird größer, wir halten uns
aneinander, einige wollten Langra
helfen, um zum Halt zu kommen, aber er rollt so schnell den steilen Hang
hinunter, daß nichts mehr zu machen war − sein Kilt fliegt wild umher, seine
nackten Beine wirbeln schleudernd über das kurze Gras, Langra schreit und ist schnell an der Kante und rollt über die
Kante in die Tiefe und gleich darauf in den See unten − wir hören das
Aufplatschen.
Einige der Jungen rennen
an die Kante und sehen hinunter, „er lebt, er lebt!" rufen sie hell nach oben,
„die anderen da unten sind ins Wasser gesprungen und retten ihn."
BILD 01 Langra rollt hinunter
Legende: Langra
rollt den Hang hinunter. Die Gäste sind erstaunt
über seine mit schwarzem Haar-Flaum bewachsenen Beine.
„Ähnlich wie ein Hobbit in Tolkien´s Romanen," meinte
ein anwesender Engländer.
über seine mit schwarzem Haar-Flaum bewachsenen Beine.
„Ähnlich wie ein Hobbit in Tolkien´s Romanen," meinte
ein anwesender Engländer.
Die Zeichnung habe ich nach der
Marmor-Skulptur von Benvenuto Cellini, „Narziss"
(1548), entworfen.
Es ist Sommer, und wir
hatten früh zusammen eine Tageswanderung begonnen, in die Wälder, an die
Bergseen, an die Wasserfälle . . . und wollten mittags ein kleines Feuer veranstalten
und etwas Mitgebrachtes braten und essen. Wer sind wir? Schüler und
Lehrer einer besonderen Schule im Lande „Sandhaufen„, wie wir Kinder es nennen,
offiziell nennt sich dieses kleine Ländchen in der Mitte von Deutschland
„Langrocksland". Ihr merkt schon, ein unbekannter Name mit irgendeiner Bedeutung, die was mit langem
Rock zu tun hat. Nicht etwa das englische Wort für Felsen oder eine gewisse
Musikart sondern der Hinweis auf unsere alte Tradition der langen Röcke. Dieses
Ländchen von etwa sieben kleinen Gemeinden hat sich − versteckt in den
hessischen Wäldern − vor Jahrzehnten gebildet, hat sich aber still verhalten,
und wir sind bei uns geblieben.
Da ist auch diese
geheime Schule. Und nun schreibe ich das erste mal von uns, doch bitte, macht kein großes Geschrei darum,
die Presse wollen wir draußen lassen. Damit uns unsere Sitten nicht durch die
Journaille verdorben werden. Wir fühlen uns nun stark genug, in eigener
Verantwortung im deutschsprachigen Raum von uns zu berichten.
Langra rettete sich, mit Hilfe der anderen da unten, die
schnell ihre Röcke ins Gras geworfen hatten und in den See gesprungen waren. Ja
Langra, ihr seht bereits, unsere
Namen sind andere. Auch unsere Kleidung, unsere Wohngewohnheiten, Lebensweisen,
Nahrung, unsere sozialen Regeln − wenn da überhaupt welche sind! Aber
irgendwelche werden wir schon haben. Wir haben wenig Lust umher zu reisen
sondern erfreuen uns an den schönen Landschaften im kleinen Langrocksland. Und
am winterlichen Schnee und Eis und an den sommerlichen Blumen und
Schmetterlingen und Vögeln. Und an den schönen Menschen hier. Wir freuen uns an
Zeugung, Geburt, Kind-Sein, Leben und Liebe, Alter und Tod und die Zuversicht
auf ein nächstes Leben − alles gehört zusammen.
Wir wandern hier viel
umher und besuchen einander in den kleinen Häuschen und Gärten und singen
zusammen, auch bei der Arbeit in den Gärten, Wäldern, Werkstätten, an den
Häusern. Über unsere Grenzen wandern wir selten hinaus, ja, sehen nicht mal
hinaus, „sehen selten über den Tellerrand", wie man sagt. Langrocksland ist
eingeschlossen von dicht bewaldeten Bergen mit schroffen Felsen, und das ist
den Leuten von draußen unheimlich. Doch es sind wohl eher unsere Sitten, die
denen unheimlich und ablehnenswert sind, ja sittenwidrig.
Es waren aber drei, vier
mutige Fremde aus dem Land da draußen bei der Rauferei anwesend, bei dem
Ausflug − auch der Engländer, der Tolkien´s Romane kannte, die uns erst Jahre
später in deutscher Übersetzung erreichten −, bei dem Ausflug. Die Kasseler
haben sich die Hände vor ihre Augen gehalten, denn sie mochten nicht hinsehen,
wie am rollenden Körper des Langra
immer wieder die Nacktheit seiner „Geschlechtsteile" − wie sie hinterher leise,
verlegen sagten − sichtbar wurde. „Nein,
ein solches unkultiviertes Volk wollen wir nicht wieder besuchen," sagte
uns ein Mann von ihnen. „Das ist ja zu obszön".
BILD 02 Kilt-Studie: rennender Knabe Immer wieder reizt es mich,
diese flatternde
Kleidung zu zeichnen, die wir hier tragen.
Das Flattern gehört zu unseren Genüssen, am eigenen Leib und an den anderen. Eng anliegende Kleidung scheint uns psychisch bedränglich zu sein.
Das Flattern gehört zu unseren Genüssen, am eigenen Leib und an den anderen. Eng anliegende Kleidung scheint uns psychisch bedränglich zu sein.
·
Doch den Engländer
begeisterte es, daß er einen leibhaftigen Hobbit traf, wie er meinte. Doch in
Tolkien´s Romanen haben die Hobbits behaarte Füße, nicht Beine. Also ist Langra von noch einer anderen Rasse,
oder?
Wir wanderten weiter,
nun im Tal, an einem Bach entlang bis zu der Stelle, wo das Feuer sein soll. Langra musste gestützt werden, er
fühlte sich sehr schwach, doch er war in keiner Weise verletzt − dank der
weichen Wiese und des Wassers. „Einmal bin ich da über eine zusammen gerollte
Schlange gesaust, doch ich war so schnell, sie konnte mich nicht beißen, da war
ich schon wieder weiter − . . . und im
Wasser. Wie es der jetzt wohl geht? Ob sie auch noch vor Schrecken zittert − wie ich?".
Am Feuer sitzen wir ganz
still. Ein Feuer ist uns etwas Heiliges, Stilles. Wir waren durch den Wald
gegangen und haben Hölzer gesucht, abgefallene Äste, trocken − haben das Feuer
angerieben mit den allertrockensten Hölzern und ein wenig Baumflechte.
Wir streicheln Langra´s Beine, und er schlägt seinen
Rock zur Seite und wir sollen auch seinen Unterkörper streichen und massieren −
ja alle Leute in unserem Völkchen tragen weite, oft lange Röcke, schon seit
Generationen scheint es mir. Die Hosen der Menschen da draußen erscheinen uns
unmoralisch, verderbt, unsittlich, verschwitzt. Unsere meisten Röcke sind aus
Leinen, das im weiten Bogen von der Hüfte bis an die Knie oder weiter runter
fällt, in weiten Falten. Sie sind bunt gefärbt und oft längs gestreift. Oben
ein Leinen-Gürtel oder auch mal ein Hanfseil. Viel wedeln wir mit den Röcken
umher und halten somit Beine und Unterkörper frisch und gefühlig. Und am
Oberkörper? Da hängt meistens ein Kittel, weit und warm und lang und auch bunt,
einfarbig aber. Mit Tüchern um Hals und Nacken.
BILD 3 A wir in Röcken
Im Winter
vervielfachen wir diese Kleidung, auch tragen wir Strümpfe, derbe Schuhe und
dicke Mützen.
Auf lange Zweige hat
sich jeder ein Stück Brot gespießt, oder eine Gurke oder andere Frucht, auch
letzte Äpfel des Vorjahres. − und hält es über die herunter gebrannte Glut −
nicht direkt ins Feuer.
Wir wandern vorsichtig
umher − wieso vorsichtig? Weil hier noch mehr Wesen leben, ich denke da an die
Vögel, Rehe, Hirsche, Schlangen, die wir nicht mehr als nötig aufschrecken
wollen, mit ihnen in Frieden leben wollen. So kommt es, dass sie ganz nahe
kommen, fast in die Häuser. Manchmal kommt ein Reh ganz zutraulich in unsere
Hütten. Einmal kam ein Rehbock zu uns ins Haus und verlor ein Horn, einfach so
abgefallen − na, dann wird ein neues wachsen.
An einer Wassermühle
kommen wir vorüber, hier am Bach ist eine Mühle, in der gute Elektrizität
erzeugt wird, für das Licht in der Mühle und für ein paar Geräte, wie Sägen,
Drehbänke, Bohrer . . . alles in geräumigen Werk-Hütten rund um die Mühle
angelegt. Oberhalb des Wasserrades ist ein Sieb im Wasser, damit nicht größere
Fische oder so in die Schaufeln geraten − es würde ihnen wohl nichts geschehen,
aber erschrecken wollen die Müller sie auch nicht.
Unser Kapital ist das
Holz der Wälder und gewisse Bausteine aus den Felsen an den Südgrenzen unseres
Ländchens. Die wir fördern und nach außen verkaufen, zum Beispiel nach Kassel,
in diese begierige Stadt. Mit allen Naturstoffen − wie die Kasseler sagen −
gehen wir sehr vorsichtig um, damit unseren Kindern keine Schäden und keine
Verluste entstehen durch Raubbau oder Ähnliches. Das nennen sie „nachhaltiges"
Wirtschaften, glauben aber selbst nicht dran, lächeln etwas spöttisch.
Für diesen Aufsatz frage
ich ein paar alte Leute, wie unser Langrocksland entstanden ist. Wie es
gekommen ist, daß wir so anders sind als die Menschen sonst in Hessen und den
anderen deutsch sprechenden Ländern. So ganz anders als die Kasseler. Ein alter
Mann − wir nennen ihn Narrator
(Erzähler imn Lateinischen) − beginnt:
„Nun bin ich über 80 und
habe schon manches gesehen.
Früher lebten wir − ich
meine als wir Kinder waren − viel weiter im Norden, in einer alten Stadt. In
einer alten Stadt aus dem Mittelalter, mit Sagen und zwei wunderschönen, großen
Kirchen. Dann war der große Krieg, in dem wir Deutsche uns fast alle Völker zu
Feinden gemacht haben, auch viele Leute hier im Land, selbst viele Kinder, die
nicht einmal wussten, was ein Feind ist. Schon vorher war es so schlimm, viele
Leute verließen das Land. England lud viele Kinder aus Deutschland ein, herüber
zu kommen, denen Qual und Tod im eigenen Volk drohte, Kindertransport nannten
sie das Unternehmen. Ein Engländer meinte, man muß diese Leute aus diesem
eigentlich großartigen Land herausholen. Immerhin wurden so hundertzehntausend
Kinder gerettet, doch über eine Million Kinder wurden von den eigenen Leuten −
also ebenfalls Deutschen − getötet, grausam.
Dann der Krieg. Ich
hörte danach mal, Deutschlands Führung hätte 1939 „gegen die polnischen Kinder
Krieg geführt", wir Deutsche hätten das so gewollt. Doch wir wurden dann von
den selbst gemachten Feinden besiegt − es gab viele Millionen Kriegstote!
Allein sechs Millionen Polen − ein so schönes Volk, diese melodische Sprache!
Ich bekomme wieder Tränen, wenn ich nur daran denke.
Dann wurden wir von den
Soldaten der Feindstaaten besetzt, bei uns in der Stadt waren es Briten, und
zwar ein schottisches Regiment. Und diese Männer trugen eine wunderschöne
Uniform: knielange, bunte Faltenröcke, die sie „Kilt" nannten. Ich glaube, diese
Kilts waren im Grundton im starken Rot, und dann kariert mit anderen Farben.
Klar, erst waren die
noch so genannte Feinde und wir hielten Abstand − doch unsere Familien und
unser Freundeskreis − meine eigene Familie und ein paar andere − waren sehr
international eingestellt. Die Zeiten unter Hitler waren für uns sehr peinlich
− diese Fremdenfeindschaft . . . oh nein, und unsere Eltern mussten immer
wieder den Mund halten, ja, man durfte nicht mal ihre Augen sehen. Damals war
es in Deutschland so, daß man schnell den Kopf verlieren konnte − wie meine
Mutter mal sagte. Mit Bitterkeit sagte sie es − allerdings erst nach dem Krieg.
Während der Hitlerzeit waren wir Kinder nicht eingeweiht, erfuhren fast nichts
− außer dem Aller-offensichtlichsten. Dann das Elend am Ende.
Wir waren brav
organisiert in der Staatsjugend, Hitlerjugend oder so. Mit Uniform, die wir
sogar oft stolz zur Schule trugen. Alle gleich, so wollte es die
Parteidisziplin, so wollte es der „Führer". Wir waren sein Garant. Das half ihm
aber nicht: viele Kindersoldaten, will ich mal sagen, mussten mehr weinen −
wenn sie auf andere schießen sollte − als daß sie „tapfer" gewesen wären. Ich
war noch zu jung, mich haben sie nicht geholt. Ich musste zu keinem Einsatz,
und dann war es vorbei.
Und dann innerhalb
weniger Tage das Ende dieser „Großen Zeit„, an die wir Kinder so fest glaubten.
Das Ende dieses kurzlebigen „Tausendjährigen Reiches". Und dann die vielen
Ausländer in unserer Stadt − gewiß, vorher waren auch viele hier, aber sie
waren Gefangene, Zwangsarbeiter, Sklaven . . . Und nun diese freien Menschen,
die andere Sprachen sprachen. Unser Kreis fühlte sich befreit, freier als ich
es je erlebt hatte, immerhin war ich erst 12 Jahre alt, geboren sechs Wochen
vor Beginn der Hitler-Diktatur.
Und dann dieses Bunte
der Fremden, besonders diese bunten Röcke − von Männern getragen, täglich, wie
man hörte, selbst im Kampf! Doch nun war ja kein Kampf mehr, glücklicherweise.
Unser Kreis begann,
anders als üblich zu leben, sich anders als üblich zu kleiden, wir stiegen auch
in solche bunten Röcke − das ging zuerst nur geheim, denn die meisten Leute
verstanden unsere Haltung nicht und verspotteten oder beschimpften uns. Nur im
Haus oder eigenen Garten fühlten wir uns zuerst frei. Hier sind ein paar
Zeichnungen, wie wir anfingen:
BILD 3 B wir in Röcken: Emil
Auch ich, als Junge, begann,
einen solchen Rock zu tragen. Ich meine den schottischen Kilt − doch es war
schwierig, diese Stoffe zu bekommen. So schön bunt-kariert. Meine Mutter fand
irgendwo ein Stück und nähte mir einen Schottenrock, allerdings zu kurz, aber
es war mein Anfang, nur ein Stück Tuch um die Hüften gewickelt − ein Kilt ist
viel umfangreicher. Hat viele Falten, die sorgfältig genäht und gebügelt sind.
Diese Tage waren unser
ganzer Anfang − noch in dieser alten Stadt. Der Beginn der neuen Zeit − eine
wirklich neue − und sehr viel andere Zeit, wie du nun hier in Langrocksland
sehen kannst. In die Schule ging ich im Rock nur selten − kaum auf die Straße,
doch irgendwann begannen wir als „bekiltete" Gruppe − wie wir sagten −
gemeinsam zu wandern, erst Sonntagstouren in Wald und Dörfer, dann längere
Wanderungen, sogar in Jugendherbergen stiegen wir ab, wo uns ja niemand kannte.
Die Frauen waren da offener, die Männer und Knaben scheu − ihr habt vielleicht
von den alten Vorstellungen gehört: ein Mann trägt doch keine Frauenkleidung,
ist doch nicht Frau oder Mädchen. Ein Junge tut das schon gerade nicht.
Besonders die Knaben hatten manche Gefühls-Probleme, zu Röcken überzuwechseln: „das ist doch Mädchenkram," sagte Tobias als er die ersten Experimente machte:
BILD 04: Tobias probiert seinen ersten Kilt, dazu die Langen Wollstrümpfe,
wie sie damals für Kinder üblich waren.
wie sie damals für Kinder üblich waren.
Ja, so ist das. Unsere
bunte Kleidung fällt den Fremden aus dem umliegenden Hessen-Land auf, immer
wieder versuchen sie, uns zu fotografieren mit ihren aufwendigen Apparaten. Wir
haben solche Apparate nicht, und wir finden es auch unhöflich, andere Menschen
− oder auch Tiere − ohne Erlaubnis zu fotografieren. Sie kommen in ihren großen
Autos angefahren − obwohl wir Sperrschilder an den Grenzen haben −, steigen
nicht einmal aus, grüßen kaum, sondern richten ihre langen Fotorohre auf uns.
Wir drehen uns meistens um oder rennen weg, in die Büsche oder hinter die
Felsen. Und dann lachen sie.
Lieber malen oder
zeichnen wir. Das mag nicht so richtig sein wie deren technische Foto-Bilder,
aber es ist von unserer Hand. Die Farben zum Malen erschaffen wir uns aus
Mineralien oder Pflanzen. Und das Papier kann eine geschickte Frau aus Schilf
machen, etwas aufwendig aber recht schön. Zum Zeichnen nehmen wir Rohrfedern.
Schilf? Ja, wir haben
ein paar Teiche angelegt, in denen wir schwimmen oder im Winter auf dem Eis
schlittern. Den Ruschen-Teich und den Bieber-Teich − wo allerdings keine Biber
leben, das sind nur unsere Wünsche, mal sehen, was im Laufe der Jahre passiert.
Und nun die Schule. In
einem der Häuschen versammeln sich die Kinder, die etwas lernen wollen. Irgend
eine Erwachsene oder ein Erwachsener kommt und zeigt den Kindern, was sie
wissen oder lernen wollen. In einem gewissen Steinbruch finden wir
Schieferplatten, aus denen wir uns Schreibtafeln abspalten, auch für die
Kinder. Und kleine Schieferstückchen nehmen wir um auf die Täfelchen zu
schreiben und zu zeichnen.
Irgendwann will jedes
Kind lernen: schreiben, lesen, zeichnen, malen, auch Sport, besonders klettern
und schwimmen, will schneidern, Waldarbeiten und Gartenarbeiten tun. Viel
wandern unsere Kinder, denn sie müssen unser Land kennen lernen.
Besonders
Landeskunde:
mit 10 Jahren kennt jede und jeder von uns unser Ländchen. Wir wandern
allein
oder in Freundesgruppen umher. Auch im Winter. Hier ist ein Bild, wie
ich mit
meiner Mutter wandern will − sie trägt auf diesem Bild einen Rock mit
schottischem Muster, Tartan, ich aber einen Kilt mit Längsstreifen, wie
es
üblich ist. Jungen tragen den Kilt nach rechts umgeschlagen, Mädchen
nach
links. Ebenso bei Erwachsenen. Im Winter im Rock, da muß man schon recht
warme,
lange Strümpfe drunter ziehen − ihr seht´s auf dieser Zeichnung. Doch
mit dem
rechts oder links geschlagenen Rock ist es nicht immer so − gelegentlich
möchte
ein Junge als Mädchen gehen, oder ein Mädchen als Junge − und danach
schlagen sie
ihre Röcke links oder rechts. Und dann gibt´s keine Anzeichen mehr, wozu
ein Kind gehört. Das ist uns nicht wichtig, anders als bei den anderen
Deutschen.
BILD 05 ich mit Mutter in unserer Winterkleidung,
Röcke und Strümpfe, Stiefel
. . . und unter dem Rock eigentlich ein warmes
Unterkleid, das ich auf der Zeichnung weg gelassen habe. So wanderten wir mal
zu zweit aus dem Langrocksland raus weiter in den Süden, in die Rhön, und auf
die Wasserkuppe − im verschneiten Winter. Das war eine mehrtägige Tour, und wir
schliefen in dicken Schlafsäcken im Schnee. Meine Stiefel waren dicker als auf
diesem Bild, und die Socken für die Füße auch. Meine Mutter trägt hier einen
dicken Mantel über allem, ich zog auch so etwas an, eine Art Cape, dunkelgrün.
Dort oben blieben wir eine Nacht in einer Herberge um uns mal aufzuwärmen, aber
die war allerdings recht kalt, fast nicht geheizt.
Es ist schon eigenartig
− hier oben auf der Wasserkuppe sind viele Skiläufer, alle in langen Hosen, und
wir beide die einzigen Rockträger, für die anderen Leute ungewohnt. Dazu unsere
dicken Strümpfe, gestrickt aus einer Art Wolle, die wir teuer außerhalb Langrocksland
gekauft hatten. Und stricken kann bei uns jeder Mensch, von Kindheit an. Wenn
ein wollenes Kleidungsstück verschlissen ist, ribbeln wir es auf und haben neue
Wolle.
Eine alte Frau − wir
nennen sie Oroni − erzählte uns
weiter über die Vergangenheit von Langrocksland:
„Und dann wurde unsere Gruppe immer mehr zu
einer eigenen Kultur, sehr schnell, in wenigen Jahren. Wir trugen nur noch
diese bunte Kleidung, versuchten uns aus Schottland Anregung zu holen, was
selten möglich war, denn es war sehr teuer, so weit zu reisen. Doch in unserer
Heimat-Stadt damals wohnten auch ein paar schottische Familien, Familien von
Offizieren und Beamten. Und mit denen hatten wir bald Kontakt und ließen uns
beraten. Und wir bekamen mal ein paar Pakete mit schottischen, karierten
Stoffen geschickt.
BILD 05 Buchdeckel Hier zeige ich euch ein altes
Buch
mit schottischer Kleidung, das wurde etwas unsere Vorlage
mit schottischer Kleidung, das wurde etwas unsere Vorlage
Doch wir merkten bald:
imitieren wollten wir die Schotten nicht. Das Bunte ja, die Röcke ja, aber
nicht unbedingt deren Karomuster und anderes. Nicht diese vielen Zutaten zum
Kilt, nicht deren Dudelsackmusik, nicht deren Scheu, Strümpfe über die Knie zu
ziehen („das ist doch mädchenhaft, wäre zu un-männlich„ sagte uns ein schottischer
Junge). Wir wollten einen eigenen, einfachen Stil entwickeln. Und das war in
den Jahren nach dem Krieg nicht so schwer, denn Aufwendiges, Teures,
Vielfältiges, Über-Technisches, riesengroße Angebote an Ideen und Designs . . .
− so wie heute − gab es damals nicht,
und es gab nicht die Versuchung, sich nach solchen Dingen umzusehen.
Wir blieben einfach,
schlicht. Aber bunt. Und eine alte Zeichnung legten sie mal mit in eines der
Pakete: wie drei kleine Knaben im Kilt im Wald spielten, so um 1900. Unser Gastgeber
in der alten Stadt, ein gewisser Colonel Middel, war der kleinste boy ganz
rechts. Nun war er General oder so was und befehligte das schottische Regiment
bei uns in der Stadt. Jeder Knabe in den Highlands (dem schottischen Bergland) fängt mal so an, sagte er. Das war uns
Ansporn, unsere Kinder ebenso zu kleiden. Es soll ihnen Spaß machen, so wie dem
General als Kind auch.
BILD 07: drei schottische Knaben im Wald, etwa 1910 gezeichnet.
Nachdem das schottische
Regiment wieder abgezogen war, ergab sich dann, daß wir nicht hier in unserer
konservativen Heimat-Stadt bleiben wollten, wir dachten an ein Stück Land, wo
wir wirklich ganz unseren eigenen Stil entwickeln und leben können. Für unseren
Kreis suchten wir einen Namen, und ein wenig fantasiearm nannten wir uns
erstmal den „Röcke-Kreis„. Im Röcke-Kreis kannte jemand eine reiche Familie,
die viel Wald- und Fels-Land im Hessischen besaß. Die besuchten uns und boten
uns ihre Täler, Felder, Wälder und Felsberge zum Ansiedeln an. Das war in der
Nähe von Kassel, südlich von Kassel, in den hessischen Wäldern. Eine kleine
Gruppe von uns − auch Kinder − fuhr in eines der fast verlassenen Dörfer, und
wir fanden die Idee sehr gut. Nach einigen Vorbereitungen zogen wir um. Mit ein
paar Lastwagen, die wir von einer Firma Klemme mieteten. Die Dörfchen in diesem
Gebiet waren klein und die Häuschen fast alle zerfallen. Unsere Eltern mussten
sehr viel arbeiten, bis wir wenigstens ein paar Zimmer bewohnen konnten.
Die wenigen Menschen,
die aus alter Zeit dort wohnten, waren sehr erstaunt, uns zu sehen. Es kam bald
zu Freundschaften mit ihnen, und ein paar Familien, die hier bleiben wollten,
traten unserem Röcke-Kreis bei. Die anderen waren froh, in eine Stadt ziehen zu
können, wo sie mehr verdienen konnten.
Die Beigetretenen hatten
noch einige Schwierigkeiten, täglich so wie wir bunte Röcke zu tragen − und
dann noch meistens nackich unter dem Rock − bis es ihnen zum Alltäglichen
wurde."
So weit Oroni, die auch als Kind dieses alles
beobachten und erleben durfte, der Umzug und die Ansiedlung hat sie sehr
angestrengt sagt sie. Und dennoch: sie war froh, eine kleine Hütte im Garten
ihrer Eltern zu beziehen. Mit dem Blick auf eine Waldwiese, auf der die wilden
Tiere des Waldes erschienen.
Nun saß sie auf einer
kleinen Bank vor ihrem Häuschen, und wir baten sie, mehr zu berichten. Sie trug
einen langen weiten Rock, der wie meiner längs gestreift war, rot und grün.
Weiter erzählte Oroni uns:
„An meine Kindheit in
der alten Stadt kann ich mich sehr lebhaft erinnern. Mit anderen Schulkameraden,
wie wir damals sagten, feierten wir mal Geburtstag in der Familie eines der
Kinder. Da habe ich eine Erinnerung, wie eine Mutter ihr vielleicht
zehnjähriges Kind sehr heftig beschimpfte, weil es seinen eigenen Willen
durchsetzen wollte, eine bestimmte Kleidung zu tragen. Das fand ich so was an
Un-Höflichkeit, noch dazu gegenüber dem eigenen Kind. Und schließlich schlug
die Mutter ihr eigenes Kind ins Gesicht. Das hat mich sehr entsetzt.
Da bin ich heulend raus
gerannt, habe meinen Mantel genommen und bin nach Hause gelaufen. Das konnte
ich nicht ertragen. Ich war vielleicht 12 oder so. Am nächsten Tag ist meine
Mutter mit mir zu der Frau gegangen und versuchte zwischen uns zu vermitteln,
wobei sie natürlich eher auf meiner Seite stand − und auf der Seite des
geschlagenen Kindes. Die andere Frau war erst sehr wütend, dann aber traurig.
Wie sie uns zur Tür geleitete hat sie geweint und uns gedankt. „Ich will das
nie wieder tun."
Für mich war das eine
große Lehre, und ich habe alles getan, daß wir in Langrocksland nie, nie, nie
unsere Kinder schlagen. Sondern immer voll die Höflichkeit bewahren zu unseren
Kindern. Ja, es hat sich gelohnt. Das Verhältnis zwischen allen Leuten hier ist
viel besser und offener und liebevoller – ja selbstverständlicher als sonst in
Deutschland.
Meine Mutter lehrte mich
auch zu verstehen, daß bei einem kleinen Kind zwei Monate so viel sind wie zehn
Jahre bei uns alten Erwachsenen. Da geschieht so Vieles bei den Kleinen, das
will alles so schnell in dem neuen Gehirn verarbeitet werden. Das ist bei uns
Alten längst alles geschehen, und so läuft alles viel langsamer ab."
Wir haben viel Winter −
in den letzten Jahren gab es weniger Schnee, aber man weiß ja nicht, was noch
werden wird. Viel Frost haben wir. Der Schnee würde den Boden schützen. So aber
sterben manche Kräuter ab, wahrscheinlich auch Tiere, die im Boden ihren Winterschlaf
halten. Das tut uns Leid, denn wir denken nicht so wie die anderen Menschen in
Hessen: nach dem Frost gibt es nicht so viele „Schädlinge"sagen sie. − „Schädlinge"? Was ist das? So nennen die
anderen Leute Tiere, die sich am Aufessen von Pflanzen beteiligen, die wir
Menschen uns zum Essen anpflanzen. Na ja, da gibt es manchmal einiges mehr an
Arbeit, um diese Tiere mit durch zu füttern. Wenn das zu viel wird, verjagen
wir sie, sie müssen sich wo anders etwas suchen. Aber wir töten sie nicht absichtlich.
Mein Vater war noch als Soldat im Krieg und sagte immer wieder, „es ist schon
viel zu viel getötet worden, wir müssen uns das mal abgewöhnen." Oder wir
sammeln sie und setzen sie wo anders aus.
Wenn wir mal auf einer
Reise unser Langrocksland verlassen, sind wir immer wieder erstaunt über die
Hetze der anderen Leute. Sie laufen, ja rennen − nicht etwa als Sport sondern
zur täglichen Verrichtung ihrer Dinge, ja selbst die Kinder rennen in die
Schule. Und die Fahrzeuge fahren schnell, sogar die Lastwagen mit Pferden davor
− wenn die Pferde sich nicht weigern zu rasen. Und bei der Arbeit, selbst im
Sitzen, reden sie immer so eilig. Oroni
sagte dazu:
„Bei uns war es damals nicht anders. Als wir
dann unter uns waren, fiel uns diese Hetze auf, und wir begannen, langsamer zu
werden. Für manche war das eine schwere Lern-Arbeit. Jemand kam zu uns und
zeigte uns etwas, was er Meditation nannte: „Wenn ihr das wirklich wollt: setzt euch still hin und beobachtet, wie
der Atem durch die Nasenlöcher strömt, sich im Bauch aufbläht, und dann den
Leib durch die Nase wieder verlässt. − Tut
das oft, nicht nur im Sitzen, sondern bei jeder Tätigkeit. Habt diese
beobachtende Offenheit im Innern."
Und wir führten das bei
uns ein. Bald atmete fast jeder und jede bei uns so. Und das Leben in
Langrocksland wurde immer gelassener, wir wurden stiller − obwohl wir auch mal
laut lachen und starke Lieder singen, oder sportlich rennen. Oder jemand vor
Wut richtig laut weint und brüllt.
Es wurde sogar so, dass
ab und zu Fremde zu uns kamen, um sich an unserer Ruhe zu erholen, Ferien zu
machen. Wir mussten dann aufpassen, daß uns diese Gäste nicht ihre Hektik
mitbrachten und uns ansteckten."
Und einmal − in einem
schneereichen Winter − kamen eine Frau und ein Mann zu uns durch die Wälder
gegangen. Mit einem großen Hund (ohne Leine) und einem Esel, der das Gepäck
trug, der war auch ohne Leine oder Zaumzeug. Die beiden hatten lange Kutten an,
mit Kapuzen, hellbraun mit ein paar orange Längsstreifen, alles eher aus grobem
Stoff, man dachte an Schafshirten. Doch die beiden waren etwas anderes. Sie
hatten sehr helle, strahlende Gesichter, sprachen einen unbekannten Akzent.
„Wir sind aus Ostpreussen hier her gewandert, und nun sind wir wohl
angekommen," sagte die Frau.
„Seid willkommen. Wir
haben zwar kaum bewohnbaren Raum, aber das wird sich schon finden." Sie hatten
ein kleines Zelt auf des Esel´s Rücken gepackt, das sie irgendwo am Waldrand
aufbauten. Meistens saßen sie vor ihrem Zelt, unter einem Vorzelt. Und sahen in
das Tal, wo ein Bach fließt. Sie saßen im Schneidersitz, hatten die Hände über
Kreuz im Schoß liegen. Im Rücken ihres Lagerplatzes ist ein hoher Felsen, und
da oben ist eine kleine Höhle, in der Uhus leben und ihre Kinder aufziehen. Vor
der Höhle ist ein Absatz, wie ein kleiner Fels-Balkon, da kann man ab und zu
einen der Uhus sitzen sehen.
Bald gingen ein paar
Kinder, und dann auch Erwachsene zu den beiden Wanderern und hörten sich deren
Geschichten an. Hier fasse ich mal zusammen, was sie berichteten:
„Wir sind schon ein paar
Jahre unterwegs. Als der Krieg (2. Weltkrieg) zu Ende ging, lebten wir noch in unserer Heimatstadt,
Königsberg (heute Kaliningrad). Wir waren Lehrer. Das
Kriegsende war schrecklich, Wochen lang Geschütz-Donnern. Einschlagen von
Granaten in die Häuser. Alles ging kaput, überall lagen Leichen und stöhnten
Verwundete, Soldaten und Zivile, Russen und Deutsche und Polen. Wir beide
betreuten die Verwundeten und die elternlosen Kinder, die man traf.
Irgendwo fanden wir
diese Zeichnung, die einen deutschen Jungen vor seiner zerstörten Heimat
Königsberg zeigt. Er kam danach mit einem Kindertransport in den Westen. Dort
fand er eine neue Heimat, er zeichnete dieses Bild und sagte, nun will ich nie
wieder ein Bild zeichnen."
BILD 08 Die
schützende Kleidung des Jungen,
von ihm selbst
gezeichnet vor den Trümmern seiner Stadt.
„Wir können verstehen,
wieso die Russen so zerstörerisch mit der Stadt und ihren Einwohnern umgingen:
vorweg war ja die Zerstörung Leningrads gegangen mit über einer Millionen toten
Leningradern. Als Deutsche haben wir eine tiefe Scham über dieses deutsche
Kriegsverbrechen − verursacht durch deutsche Politiker, Beamte und Soldaten,
mit Billigung der anwesenden Offiziere der Wehrmacht. Die doch meistens einen
hohen Bildungsstand hatten, denken wir. Doch das würde´s wohl nicht bringen, um
menschlich zu sein.
Da ich eine medizinische
Ausbildung habe, blieb ich in der Stadt in Krankenhäusern und Lazaretts. Gerda
war weiterhin Lehrerin. Ein Jahr nach Kriegsschluß konnten wir die Stadt
verlassen, sie hieß bald Kaliningrad bei den Russen. Zuerst wurden wir in
Güterwagen in die Sowjetische Besatzungszone verfrachtet − mit vielen anderen
Deutschen, auch Kindern. Dann wanderten wir selbständig weiter und verdienten
uns ein wenig mit kleinen Arbeiten.
Wir hatten erstmal keine
Lust, uns wieder anzusiedeln, deswegen das Wandern, das sesslose, heimatlose.
Während unserer
Ausbildung in Königsberg trafen wir in der Universität einen Mann, der uns eine
kurze Ausbildung ins Yoga gab, das er früher in Indien gelernt hatte. Das
bedeutete für uns beide − vielleicht noch für ein paar andere Studenten −, sich
selbst zu erkennen. Und die Seele lenken zu können, sozusagen. Und mit diesem
geistigen Werkzeug gelang es uns, diese sehr schweren Zeiten zu überstehen. Und
ein wenig fröhlich zu bleiben.
Inzwischen haben wir
beide durch eigene Erfahrung noch viel mehr gelernt. Wir haben viel
experimentiert. Und dann: um das alles über das ganze Jahr üben zu können ohne
zeitlich in einer fremden Arbeit oder vom Winter gefangen zu sein, sind wir
nach Ober-Italien gegangen und haben dort zwei Jahre gewohnt, wo es wärmer ist.
Nun könnte man uns vielleicht als Anfänger-Yogis bezeichnen. Doch wir müssen
mal einen echten Inder kennen lernen, der uns da mehr Authentisches sagen und
lehren kann."
Das haben uns Gerda und Robert ausführlich berichtet, an vielen, langen Abenden am
gemütlichen Feuer in dieser und jener Hütte. Inzwischen bauten sie an einer
eigenen Hütte. Unsere Lebensweise hat ihnen besser gefallen als alles andere,
das sie seit ihrer Flucht aus Königsberg gesehen hatten. „Ihr seid so menschlich
echt, −" sagten sie, „− nun können wir
vielleicht wieder sesshaft werden. Das Kriegsende war so schrecklich, daß
unsere Seelen sehr zerrüttet waren. Da will ich nun nichts drüber berichten.
Wahrscheinlich könntet ihr es nicht ganz verstehen. Doch dank dem Yoga haben
wir uns eine seelische Grundlage schaffen können, die unsere Seelen
einigermaßen geheilt hat."
Wir möchten mehr
erfahren über das, was sie ihr Yoga nennen.
„Ja, da ist etwas
Besonderes geschehen. In dem Städtchen Osterburg in der Altmark sahen wir in
ein kleines Laden- Schaufenster, und da stand ein Buch, das uns sofort
ansprach: es war eine Art Tagebuch, in graues Papier geschlagen, doch auf dem
Papier stand ganz deutlich „Mein Yogabuch„. Wir gingen in den Laden und sahen
hinein, es war eine handschriftliche Sammlung von Abschriften von einigen
Büchern, in Deutsch und Englisch, und an einigen Stellen in einer uns
unbekannten Schrift, das war Sanskrit, wie wir später merkten, eine alte
indische Sprache, klassische Sprache wie bei uns Latein.
Nun mussten wir uns
etwas Geld verdienen, um diesen Fund erwerben zu können. Nach einer Woche
konnten wir diesen Goldschatz kaufen. Und begannen, ihn zu studieren. Der Laden
war ein Antiquariat, und die früheren Eigentümer des Buches hatten lange in
Indien gelebt und waren gestorben, ein gelehrtes Ehepaar. Die Ladenbesitzer
waren froh, daß wir das Buch kauften ‒ in jenen Monaten hatte kaum
jemand Interesse an indischer Kultur, alles war so qualvoll und sorgenvoll nach
diesen Kriegsjahren.
Es war wohl so, daß die früheren Eigentümer Texte zum
Yoga ins Deutsche übersetzt hatten. Wir wissen nicht, ob das irgendwann
gedruckt worden ist. Jedenfalls ist es uns eine große Quelle geworden, und ist
es immer noch. Denn vieles haben wir nicht sofort verstanden und müssen dran
rum arbeiten."
Gerda und Robert blieben bei uns,
und sie wurden schnell etwas so wie wir, trugen bunte Röcke und Halstücher in
bunten Stoffen. Und waren voller Liebe, die sie immer ausstrahlten.
Ich fragte sie mal, wie sich das anfühlt, so im Alter nur
noch einen Rock zu tragen. Gerda
findet es einfach schön und frei. Sie hat meistens im Leben Röcke oder Kleider
getragen, wenn auch nicht so bunte. Es ist nichts Neues für sie. Für Robert ist es was völlig anderes: Zu Gerda´s Erstaunen sagte er:
„schon als Junge hätte ich gerne
Röcke getragen, wenn vielleicht auch nicht immer. Und mein ganzes Leben habe
ich mich danach gesehnt, besonders in den Zeiten als es so schwierig in der
Welt war, Kriegsende und Flüchtlingszeiten."
Warum gerade da?
„Es war vielleicht die unerfüllte Sehnsucht nach Leichtigkeit,
Sorglosigkeit im Leben. Mit den dicken, langen Hosen haben wir uns doch immer
geschützt − gegen alles, gegen alle, gegen Menschen, Waffen, Gewalt. Gerda hat doch auch immer solche Hosen
unter ihre Kleider gezogen."
„Und nun, endlich, ist diese Sehnsucht erfüllt. In dieser Leichtigkeit
hier im Ländchen könnte ich nackich herumlaufen, aus Freude an der
Sorglosigkeit und Freiheit hier. Da ist der Rock etwas ähnliches. Hier fühle
ich mich richtig menschlich frei."
Wieso etwas Ähnliches wie
Nacktsein?
„Weil ich keine Unterwäsche drunter trage und die Luft frei an meinen
Unterkörper kommt. Das ist auch eine erotische Freude ‒ auto-erotisch könnte man
sagen."
Das verstehe ich nun gut, denn
obwohl ich seit frühester Kindheit nie Hosen getragen habe − hier im
Langrocksland −, habe ich immer noch nach so vielen Jahrzehnten diese erotische
Freude unterm Rock − auch wohl die meisten hier. Jedenfalls die Knaben und
Männer. Ich muß mal fragen.
Gäste: einmal kommt eine Frau
aus unserer alten Heimatstadt, mit ihren zwei Söhnen von 8 und 13. Der ältere
nennt sich Buchanan nach einem schottischen Familien-Namen − er spricht das
Bjukännen aus, das hat er von einer schottischen Frau in unserer Heimatstadt
gelernt. Seinen Taufnamen Klaus mochte er nicht mehr. Buchanan wollte gerne
einen Kilt tragen, am liebsten im Stil der Familie seines Namens.
„Ich habe ein Bild gesehen, und
da . . . Könnt ihr mir einen Kilt leihen? Am liebsten im Bhuchanan-Tartan".
So einen Knabenkilt − also
kleiner als ein Erwachsenen-Kilt − hatten wir nicht, aber einen Kilt mit
anderem Muster konnten wir ihm für die zwei Wochen bei uns geben, seinem Bruder
auch. Hier seht ihr, wie die drei aussahen:
BILD 09: Buchanan und seine Familie
Der Junge wurde gefragt, was ihm
so sehr am Kilt oder Rock gefällt.
„Nicht nur einfach Rock, das ist
auch ganz gut. Ein Kilt aber weht mehr umher, es ist unter einem Kilt leichter
am Körper, fühlt sich wohler an, freier. Bisher habe ich die Mädchen beneidet
wegen ihrer Röcke − Aber nun bin ich ihnen voraus, ein Kilt ist mehr als nur
ein Rock.
Ihr im Langrocksländchen habt es
noch besser: ihr fühlt euch so frei, die Schotten nach zu ahmen − oder nicht.
Ihr seid noch weiter: wenn es kalt ist, zieht ihr Lange Strümpfe an, das tun in
Schottland nur kleine Jungen, seht mal hier:"
BILD 10: Junge im Kilt und Langen Strümpfen, ein altes Foto von 1908
Viele Jahre später schenkte er
uns eine große, gerahmte Copie eines Gemäldes von einem schottischen Knaben im
Kilt, die wir in unseren Gemeinschaftsraum hängten:
BILD 11: Gemälde Knabe im Kilt
Dieses schöne Bild malte Philip de Laszlo und es stellt den jungen Hon. Andrew Elphinstone (1918-1975) dar.
Und jemand schickte uns aus Schottland eine Postkarte mit einem kleinen Schottenknaben im Kilt:
BILD 12: Schottenknabe mit Fisch
Diese drei Bilder regten uns
an, wirklich Kilts zu tragen, nicht nur einfach lange Röcke, wenn auch − wie
bereits bemerkt − nicht mit all den schottischen Accessoirs.
„Anders als Hosen regt ein Kilt
mich an, keine Unterwäsche drunter zu tragen, das macht Spaß, besonders wenn
ich sehe, daß ihr auch nackend darunter seid. Aber es ist immer etwas Scham
dabei − etwa so: gehört sich das denn? Und sieht mir auch niemand unter den
Kilt? Dennoch, es ist ein Reiz.„
Mankion
erzählt uns: "bei meinen Wald-Wanderungen begegnete ich mal Nafets, dem
Sohn von Malina. Nafets war 15, er lief ganz nackig im Wald umher,
wanderte wie ich. Wir kamen ins Gespräch, und er sagte, er fühlt sich
wie ein Elf, ein Knaben-Elf, so nackig und allein und den Kräften des
Waldes hingegeben. Dann begann er ein Elfenlied zu singen, mit seiner
hellen Stimme wirklich wie ein Elf, und ich begann vor Rührung zu
weinen. Dann stellte er sich breitbeing hin und sagte, bin ich nicht
schön, so als Elf?"
Obwohl wir so abseits und besonders leben, kommen immer mal wieder Fremde, die bleiben. Wir müssen überlegen, ob wir noch mehr werden wollen. Doch manche Neulinge sind uns so wertvoll, daß es keine Frage ist.
BILD
13: so wie Tsering in meiner Geschichte meiner Wanderung durch Tibet
in 1000 Jahren stand Nafets und ließ sich bewundern. Seht hier: "Mein Weg in den Norden über die früh gealterten Himalayas — die Schneeberge" (in: http://mein-tibet-organisation.blogspot.de/ , auf Bild 18)
Obwohl wir so abseits und besonders leben, kommen immer mal wieder Fremde, die bleiben. Wir müssen überlegen, ob wir noch mehr werden wollen. Doch manche Neulinge sind uns so wertvoll, daß es keine Frage ist.
Oroni kommt mal zu mir und sagt − ein wenig erregt − „da sind einige Leute gekommen, mit ganz brauner Haut, Afrikaner oder Inder oder so. Ich muß mal Gerda rufen." Gerda ist ganz aufgeregt, „ja, sie sehen wie Inder aus." Fünf Frauen, vier Männer. Sie kommen etwas zögernd − wie Fremde oft, es ist so anders bei uns als sie es kennen. Wir in unserem Langrocksland sind offener, lockerer als in den anderen Gegenden Deutschlands. Und unsere Kleidung, die Hütten, keine Autos und nur wenige Fahrräder, kaum Telefondrähte an Masten und so weiter.
Knabe im Kilt auf Fahrrad –
ein seltenes Bild bei uns: ein
Fahrrad
Der eine Mann trägt einen goldgelbes Tuch als
gewickelten Rock, fast bis zu den Füßen. Ich finde, seine Haut ist nicht so
sehr braun sondern hat einen bläulichen Schimmer. Und wo die Sonne direkt hin
scheint, ist sie wirklich blau, dunkelblau. Er hat lange, schwarze Haare, mit
einem bläulichen Glanz. Die Frau, die mit ihm wandert, hat ein strahlend
mittel-blaues Tuch um den ganzen Körper gewickelt. Und sie trägt eine Kette von
Waldblumen in ihrem zusammen gewickelten Haar. Eine bunte Vielfalt, wie wir sie
nur selten erleben bei einem einzigen, kurzen Waldgang. Sie muß eine Kraft haben,
diese Blumen am Leben zu erhalten, frisch zu erhalten.
ILD 15 Krishna und Radha, indisches Aquarell
Die anderen sieben Leute haben auch diese dunkle Haut
und schwarze Haare, doch sie sind in orange-rote Tücher gehüllt. Mit den Indern
laufen sieben weiße Ziegen, die einiges Gepäck
tragen, Säcke, in denen wohl Kleidung und Nachtzeug ist. Ja, ein größeres Zelt
ist auch drin, und Stangen für das Zelt sehen heraus. Das sehen wir alles, wie
sie ihre Sachen auspacken an einem Platz in einem unserer Gärten, wo sie ihr
Zelt aufschlagen. Die Ziegen laufen umher und fressen und suchen sich Wasser.
Auch beschnuppern sie unsere Ziegen und scheinen bald mit ihnen zusammen zu
gehören − eine Herde, nur daß unsere Ziegen einfarbig braun-beige sind.
Eine der indischen Frauen hat einen dicken Bauch, und
unsere Kinder freuen sich schon, daß es bald ein weiteres Kind geben wird.
Sanft streicheln sie den dicken Bauch und gurren dabei, dem Kindchen im Bauch
erste Signale sendend. Die Mutter freut sich und streichelt unsere Kinder. Ein
kleines Mädchen läuft weg und kommt zurück mit einem weichen, weißen Tuch, das
sie der Mutter gibt, „da, für dein Kleines,„ sagt sie. Der Mutter fließen ein
paar Tränen über die braunen Wangen. Einer der Männer wird schnell als der
Vater erkannt. In gebrochenen Deutsch erklären die beiden später, wie sie die
Seele des Kindes eingeladen haben − und nun wird es schon bald kommen.
„Ein kleines Fest war das, mit Kuchen und etwas Tee mit
Milch von den Ziegen."
„Und ein Gebet, ganz einfach, etwa so: geliebte Seele, wer immer du bist, wir laden
dich ein, in diesem kleinen Körper, den wir bei uns wachsen lassen, Platz zu
nehmen. Wir versprechen dir, immer liebevoll zu dir zu sein, wer immer du sein
wirst."
Und die Frau erzählt von dem besonderen Orgasmus, den
sie ganz lange ausgedehnt haben, und von der tiefen, warmen Umarmung in einer
großen Liebe. „Dieser schöne Orgasmus für
unser Kind! Unserem Kind gewidmet."
Das Kind kommt, und fast gleichzeitig verlassen Gerda und Robert uns, sie sterben, beide gleichzeitig verlassen sie ihre
Körper, wie sie früher mal sagten. Sie waren schon sehr alt, so um 85, doch
genau wissen sie das nicht mehr. In den Wochen davor hatten sie noch Wünsche
geäußert, nämlich daß sie beide wieder geboren werden möchten, und sie hatten
sich zwei Mütter in unserem Ländchen ausgesucht, die gerne bald Kinder bekommen
möchten. Zwei junge Frauen, die sie lieben. Und mit denen sie eine Art Vertrag
geschlossen hatten.
Kurz nachdem die beiden Alten gestorben waren, feierten
die zwei jungen Elternpaare ein doppeltes Einladungsfest.
„Wir sind ja alle
vier hier im Langrocksländchen geboren. − sind also Ureinwohner. Und unsere Kinder werden es auch so halten,
denken wir. Und wir halten Robert
und Gerda in Ehren. Doch wir werden
unseren Kindern wohl andere Namen geben, oder?"
Die Idee ist, daß eine alte Seele, die sich in einen
neuen Körper einnisten möchte, dazu die ganze Zeit der Schwangerschaft
Gelegenheit hat, doch scheint es uns so, daß die Seele sich beeilt und bald
nach der Zeugung kommt.
Die Eltern fragten zuerst ihre bereits anwesenden
Kinder, ob ihnen das recht sei, daß sie ein weiteres Geschwist bekommen werden.
Da kam begeisterte Zustimmung. Und die Eltern erklärten ihnen, wie so ein neues
Baby im Mutterbauch heranwachsen und sich bilden kann. Ja, die Kinder erfahren
auch, wie die Samenzelle des Vaters und die Eizelle der Mutter zusammen
verschmelzen und dann ein neues Kind heranwächst. Das alles ist für kleinere
Kinder gewiß noch zu verworren, auch gefühlsmäßig. Aber es ist uns wichtig, daß
wir in aller Offenheit und Liebe mit unseren Kindern alles darlegen. Das ist
eine Sache des Vertrauens. Je größer die Kinder werden, desto mehr erfahren
sie.
Auch über ihre eigenen Liebesgefühle. . . .
Gerda und Robert haben uns viel
gezeigt und den Lebensstil unserer Gemeinschaft geprägt. Einige Monate vor
ihrem Sterben sagten sie, daß sie ihren baldigen Tod bereits sehen. Wir
fragten, ob sie davor Angst hätten.
„Nein, nur vielleicht vor
möglichen Schmerzen und körperlichen Bedrängnissen, aber das muß nicht sein. Da
können wir ein vorsichtiges, gesundes Leben führen, wie wir es ja meistens
hatten, selbst mit einer gewissen Klarheit damals, als der Krieg unter
tödlichen Schießereien zu Ende ging."
„Wenn ich ganz still sitze und
keine Gedanken habe, dann bin ich sehr glücklich. Dann ist es still, stilles
Glück − doch das ist nicht wie der Tod. Tod ist nicht wie tiefer Schlaf. So
eine Stille, diese wache Stille nennen sie in Indien „Dhyan", so steht es im
Buch. Tod ist aber nicht Dhyan.
"Wie macht ihr das, ganz still
sitzen ohne Gedanken?"
„Das kennt ihr doch, das tut ihr doch alle. Aber hier sind gerade Gäste aus Fulda, und für euch will ich etwas dazu sagen.
„Das kennt ihr doch, das tut ihr doch alle. Aber hier sind gerade Gäste aus Fulda, und für euch will ich etwas dazu sagen.
Für mich ist es erst mal eine
geistige Konzentration, eine Kontemplation, ganz wach in meiner inneren Mitte
sein. Nicht etwa der „heilige Dämmerschlaf", ha ha, wie es in alten Büchern
über Asienreisen steht, sondern ganz wach!
Ganz achtsam, ganz wach den
Geist beobachten und seine Stille erfahren, so wie sie möglich ist. Ja, die
Wachsamkeit, die Achtsamkeit oder auch Bewußtheit will ich das nennen. Und
versucht, in diesem Zustand ein paar Minuten zu bleiben, und diesen Zustand
genießen.
Und dann noch: wenn ich so still
für mich sitze, stelle ich mir vor, wie ein kleines Wesen, Weibchen oder so, durch
meinen Körper wandert und überall die Organe, Glieder, beobachtet und anspricht
und wichtige Sachen zur Unterstützung der Lebendigkeit sagt. Oder einfach nur
beobachtet."
„Und nun zum Tod: In dem Buch,
das wir in Osterburg gefunden hatten, waren einige Fragen und Antworten
aufgeschrieben, Antworten von einem Mann, der wohl mal ein großer Yoga-Meister
gewesen war, in Indien. Eine Frage war da: „du sagst, du warst in einem
früheren Leben vor diesem gewesen, was aber war da zwischen? Nur einfach der Tod?„
Der Meister sagte etwa:
Ihr könnt da einiges nachlesen
im „Tibetischen Totenbuch", das ins Englische übersetzt worden ist (the Tibetan
Book of the Dead).
Die Tibeter haben da sehr viel
geforscht, und sie nennen diesen Zeitraum das Bardo. Ich will das so erklären:
Im Leben sein heißt, daß da immer was geschieht, es ist nie still, selbst im
Schlaf geschieht vieles, der Körper lebt, das Blut rauscht, irgendwelche
Gedanken sind im Kopf . . . Wenn du ganz still und wach sitzt, wenn sich keine
Gedanken bewegen, also im Dhyan, hörst du den Körper, den Herzschlag und alles
was da so ist. Das alles aber ist nicht, wenn du tot bist. Doch was ist dann da
sonst?
Zwischen den beiden Leben ist
ein Spalt, eine Leere, also das Bardo − ungefähr ausgedrückt. Da geschieht nichts, da ist nichts, und
wenn du dich nachher erinnerst, erinnerst du dich höchstens an diesen leeren Spalt,
an sonst nichts. Denn da geschieht ja nichts, du hast keinen Körper, kein
Gehirn, in denen etwas geschehen könnte. Für dich geschieht nichts. Das ist
eben Tod.
Es ist nicht mal langweilig,
denn zur Langeweile gehört etwas oder jemand, der sich langweilt. Der oder das
ist aber nicht da − nur Leere, doch klare Leere. Und an diese Klarheit der
Leere kannst du dich im nächsten Leben vielleicht erinnern, manche können das.
Nicht mal dann ist es
langweilig, wenn so ein Bardo vielleicht hunderte von Jahren andauert. Doch
genauso wenig kurzweilig: nicht langweilig, nicht kurzweilig. Denn im Bardo
gibt es ja keine Zeit. Und zur Langeweile gehört ein un-interessantes
Geschehen, das ist aber nicht da im Bardo. An sich ist Bardo ein
philosophischer Hilfsbegriff, es ist nicht wirklich.
Nur in einer historischen Rückschau kann man später sagen,
ja, es waren so und so viele Monate oder Jahre. Denn Erinnerungen aus dem
vorigen Leben kann es geben, das hört man ab und zu. Da erinnert sich zum Beispiel ein Kind an Ereignisse in
seiner früheren Existenz und erzählt davon. Und so kann man historische Bezüge
finden, einen Inhalt in dem Zeitraum zwischen Tod und Wiedergeburt finden. Da
gab es vieles, aber die Toten merken nichts davon, für sie ist eben die reine
Leere. Erst hinterher, im nächsten Leben erfahren sie dies und das durch die
anderen Menschen oder Erzählungen oder Bücher."
Ich frage, kann ich ein Kind fragen, und wie müsste ich
fragen? Kann es Erinnerungen haben?
Kann ich als Erwachsene auch zurück schauen und mich
erinnern, was früher war? Kann ich da Erinnerungen haben?
„Wenn du ein kleines Kind
fragst, ist es wichtig, die Erzählungen des Kindes ganz ernst zu nehmen. Auch
wenn es offensichtlich fantasiert, sollte man das als Fantasien ernst
nehmen."
Ein weiteres Buch dazu findet ihr hier: 1)
„Ja, und da finden sich in dem
Buch aus Osterburg Hinweise für Erwachsene. Man nennt das Rückschau oder gar
Rückführung, Regression. Zum Beispiel kann ich innerhalb meines jetzigen Lebens
rückwärts gehen in meiner Erinnerung, bis zur Geburt oder sogar noch bis in den
Mutterleib, zur Einübung sozusagen. Das geht manchmal, mir ist es gelungen,
schon ein paar mal. Nicht jeder Mensch kriegt das hin. Es gehört ziemliche
Gelassenheit dazu. Geistige Konzentration, nicht abweichen! Und in weiteren
Stufen versucht man eine Erinnerung an eine frühere Zeit zu gewinnen. Da müssen
einem schon erfahrene Therapeuten helfen, und einem auf die Sprünge helfen, wie
man sagen könnte. Die sogenannten Regressions-Therapeuten."
Auch die Inder haben zugehört. Ich habe den Eindruck,
daß sie merkten, über was gesprochen wurde, obwohl ihre Deutschkenntnisse noch
nicht stark sind. Doch Robert sprach
langsam und einfach, deutlich. Der Mann im gelben Tuch heißt Krishna, und das ist in Indien ein
wichtiger Name. Er nickte und bestätigte alles, was gesagt wurde. Er meinte,
das gute Sterben könne man aus dem Dhyan heraus finden. Sterben sei der
Höhepunkt des Lebens − wenn das Leben in reiner Form gelebt sei.
„Immerhin strebst du mit dem
Sterben in eine ganz unbekannte Richtung − in ein Land sozusagen, von dem du nichts
weißt. Das kann ganz schön spannend sein. Wo wird es hin gehen?"
Robert spricht langsam, in einfachen Sätzen:
„In den letzten Jahren sind wir
leiser und stiller, Gerda und ich.
Für mich ist das schon ein wenig die stille Stimmung des Bardo, der Stille im
Tod. Es ist eine angenehme Stille in mir. Ich höre zu, was ihr sagt. Doch
berührt mich das oft nicht ‒ ihr sagt so viele Dinge, die ohne Belang sind, für
mich."
Und ein gutes Sterben sei die Voraussetzung für eine
gute Wiedergeburt.
Für die Inder sprechen wir bewußt einfach, klar und
deutlich, sie verbessern sehr schnell ihr Deutsch. Sie wurden geliebte
Mitglieder unserer Langrocks-Gemeinschaft. In wenigen Wochen bauten wir ihnen
ein festes Haus, in dem es im Winter warm sein kann. Sie bauten fleißig mit.
Dieses Haus wurde unser erstes, neues, ganz steinernes Haus, jedenfalls im
Fundament und im unteren Geschoß − oben wurde es ein aufgesetztes Blockhaus.
Und rund herum war viel Platz für einen Garten, in dem sie auch eine Kuh
hielten. Ja, sie verführten uns, eine kleine Kuhherde zu gründen, denn auch ein
Bulle gehört dazu, und wir bekommen nun Kuh-Milch und Kuh-Käse, und ab und zu
Rindfleisch, aber nicht alle essen das. ‒
Oft weiden unsere Kühe im Wald.
BILD 16 altes Bauernhaus - Im Gemeinschaftsraum hängt seit alters her
dieses
Gemälde von Witbert Lobisser (1878-1943): bei Wernberg 1937 (Bayern),
so ähnlich sehen auch hier ein paar Häuser aus.
Gemälde von Witbert Lobisser (1878-1943): bei Wernberg 1937 (Bayern),
so ähnlich sehen auch hier ein paar Häuser aus.
Jahre später beginnen wir, Käse und Butter ins Umland
abzugeben − doch sehen wir zu, daß wir nicht Geld dafür nehmen sondern andere
Waren oder Dienstleistungen. Die übliche Geldwirtschaft mögen wir nicht, die
Bundesregierung kann uns deswegen nicht leiden, denken wir.
Wie wir hören, gehört in Indien zu Krishna eine Kuhherde und Kuhhirten. Es wurde bald so, daß wir
Deutschen im Langrocksland von unseren Indern auch deren Sprache ein wenig
lernten, Hindi. Krishna´s Geliebte heißt
Radha. Sie versteht viel von der
Kuh-Haltung und -Wirtschaft. Und nach einem Jahr gründete sie bei uns eine
kleine landwirtschaftliche Schule.
Der Name Krishna
steht für ein großes, heiliges Symbol in Indien. Vor Tausenden von Jahren gab
es einen Königssohn dieses Namens, der uns Menschen die Liebe nahe gebracht
hat, die Liebe zu Gott, und die Liebe von Gott zu uns Menschen. Seine Geliebte
war Radha. Uns wurde ein Bildchen
mitgebracht, auf dem beide zu sehen sind. Das Bild hängt nun in unserem
Gemeinschaftsraum gegenüber den Fenstern (BILD 14). Die Liebe des damaligen
Krishna war so groß, daß sie auch die Tiere und die Steine und die Sterne
betraf. In Indien haben sie viele Wörter für das, was wir ganz einfach mit
diesem einen Wort, Liebe, bezeichnen. Mal
sehen, ob ich meinen Zettel wieder finde, auf dem das alles steht.
Und dann wurde Darshani´s
Kindchen geboren, ein kleines braunes Inderkind mit nachtschwarzen Augen, das
alle begeistert. Sie nannten es Bala,
das Kleine in ihrer Sprache. Bala
war anfangs wirklich sehr klein, kleiner als deutsche Kinder in diesem Alter. Bala ist ein Junge. In diesen Jahren
kamen häufiger Leute aus Kassel und dem anderen Hessenland zu uns, sie fühlten
sich vielleicht durch die Inder angezogen − welche Deutsche haben schon Inder
von Nahem erlebt.
Und nach ein oder zwei Jahren geschieht etwas Neues, was
weit ins Hessenland Aufsehen erzeugt: Unsere Inder laden eine Gruppe von
indischen Musikern ein, bei uns einige Wochen zu leben und mit uns zu
musizieren. Mit uns? Mit unseren Indern, die das eine und andere Instrument
spielen, indische klassische Musik mit Flöten, Saiten-Instrumenten und
Rhythmus-Instrumenten. Den Gästen wird das Haus zur Verfügung gegeben, und
unsere Inder ziehen für eine Weile in ein großes Zelt im Garten, zu der Kuh.
Da kommen also acht Leute: Der Meister heißt Sahib
Krishna-Prasad (Sahib heißt Herr), er spielt eine silberne Querflöte, die
er links hält, Bansúri genannt. Er
wird begleitet von einer Art Guitarre, doch viel größer und mit vielen Saiten,
genannt Vina, und zwei Paaren
Trommel, genannt Tábla, drei
einfachen Saiten-Instrumenten, genannt Tambúra,
und einem Tamburin. Dazu kommt eine Geige, die von einer unserer Inderinnen
gespielt wird. Und ein halbwüchsiger Junge singt,
mit seiner hohen Knabenstimme, die Erwachsenen singen auch dies und das mit.
Also zehn Musiker.
BILD 17 Vina
gespielt vor einem indischen Tempel
Einmal kommt eine Gruppe des Hessischen Rundfunks und
macht Stunden lang Aufnahmen, Ton und Bild. Doch erst mal wird deren
Anstrengung nicht belohnt, wird nicht gesendet, sei zu un-interessant hören wir
später von der Rundfunkanstalt. So landen die Tonbänder im Archiv, werden aber
viele Jahre später von Radio Bremen gesendet. Selbst für uns im Langrocksland
ist die Musik sehr fremd und schwierig zu verstehen − trotz Krishna-Prasad´s
Erklärungen. Wir haben keine Konserven der Konzerte, aber ähnliche Musik könnt
ihr hören und sehen im Internet bei YouTube, eine Liste findet ihr unten im
Anhang 3).
So ein Konzert hat eine eigene, besondere Stimmung. Die
Musiker sind alle in weite, weiße Tücher gekleidet, Frauen und Männer fast
gleich. Sie sitzen im Halbkreis auf dem Boden, die drei Tambúras gespielt von
Frauen, etwas im Hintergrund. Der Junge
kommt nur nach vorne, wenn er seinen Part singt. Zum Takt schlagen sie
auf ein Knie. Das Ganze geht von abends um 10 bis morgens um 7 Uhr. Herr
Krishna-Prasad sagt, diese Musik sei sehr alt im Stil. Sie sei nicht immer
rhythmisch.
Andererseits sind die Rhythmen sehr kompliziert und von uns kaum zu erkennen. Zuerst beginnt er mit der Bansúri und spielt ein paar sehr romantische Töne, Akkorde, ohne Begleitung, dann gleich wird er begleitet von einer Tampúra.
Andererseits sind die Rhythmen sehr kompliziert und von uns kaum zu erkennen. Zuerst beginnt er mit der Bansúri und spielt ein paar sehr romantische Töne, Akkorde, ohne Begleitung, dann gleich wird er begleitet von einer Tampúra.
Das auf der Tampúra ist nur ein gesummter Akkord, der
sich immer wiederholt und dem Flötisten als Haltepunkt dient, um die Tonhöhe zu
halten. Die Tampúra hat vier Saiten. „Da
ist eine große Verantwortung bei der Tampúra: von der sauberen und richtigen
Stimmung der Saiten hängt die Güte des Konzerts ab,„ sagt Krishna-Prasad.
Er spricht sehr ruhig und gelassen, und seine Worte
werden auch von der Tampúra leise begleitet. Ich verliebe mich sofort in diesen
schönen Mann. Schön in der Erscheinung, seinem Sprechen, seiner Musik. Er
spricht englisch, das ich nur mäßig verstehe, doch eine unserer Frauen
übersetzt gut für uns.
Er stammt aus der Gegend von Agra, das liegt südlich von
Delhi. Die Erwachsenen sind alle aus derselben Gegend − so wie unsere Inder
auch. Nur der Junge stammt aus dem
Süden, aus dem Madras-Staat (TamilNadu), er singt mit seinen 13 Jahren
so gut und stilgerecht, daß sie ihn eingeladen haben, mit nach Europa zu
reisen. Im Anhang findet ihr ein Konzert von einem anderen Madras-Jungen
angegeben, der ähnlich singt 4).
Unsere Gäste spielen Hindostani- (das ist nordindische)
-Musik und auch südindische, sogenannte karnatische Stücke, der Junge nur
karnatisch.
Ach doch, die eine Inderin stammt aus der Mitte Indiens,
aus der Mittleren Provinz Madhya Pradesh. Da spricht sie uns von der
mittelalterlichen Tempelstadt Khajuraho und macht schnell ein paar Zeichnungen.
.....
BILD 18 in Khajuraho gezeichnet
(die Tempel Kandariya und Jagadamba)
„Unsere Vorfahren betrieben dort vor 1000 Jahren etwas,
was man heute ein spirituelles Therapiezentrum nennen könnte.
Da stehen ein paar hohe Gebäude, uralt. Wohl 40 Meter
hoch, wenn nicht noch mehr: am Ende ist ein spitzer Turm der Höhepunkt. Alles
ganz aus festem, guten Felsstein gebaut.
Und alles in feinster Form behauen, alles voller
Skulpturen. Innen und außen. Man kann hinein gehen und die Kunst auf sich
wirken lassen. Und innen ist − wieder am Ende, direkt unter der hohen
Turmspitze − ein kleiner Raum mit einem Bild einer spirituellen Kraft, Schiva
oder Schakti, die Mannkraft und die Fraukraft, in einem anderen dieser Gebäude
ist ein Kind, Ganesch, der wie ein Elefant aussieht. Die Kindkraft, sage ich
mal.
BILD 19 Skulpturen außen an den Tempeln
BILD 20 Inneres vom Tempel Kandariya,
das Garbha griha − das Allerheiligste
„Das ist der Platz, wo die Besucher zu Gott beten
können. Doch so einfach ist das nicht, man geht nicht einfach hinein, und dann
das Gebet, oder die Bitte. Gott oder eine andere Höchste Kraft zeigt sich den
Menschen in dem Bild oder der Figur in diesem kleinen Raum. Die Beter können
vor den Raum treten, ein paar Lichter spenden und von einer Priesterin das Bild
beleuchten lassen. Dann sehen sie es. Dann berührt es."
Jemand fragt, „wieso ist das nicht so einfach? Man kann
doch hinein gehen und alles ist richtig so, das Beten, die Stille, das Ansehen
des Bildes − ist das ein Bild von Gott?"
„Ja, so etwa kann man das sehen. Doch wie oft wollen wir
zu Gott gehen und sind gar nicht wirklich bereit dazu, sind gar nicht seelisch
bereit, vor Gott zu treten. Alles ist durcheinander in uns. Zum Beispiel, wir
haben große Sorgen oder Gedanken im Kopf, oder wir sehnen uns nach bestimmten Gefühlen
wie Macht, Trauer, Liebe, Sex, Kampf, Schlaf, einfach innere Ruhe − und nichts
ist da, was uns den Weg zu Gott öffnet, alles ist zu.
Doch Gott − wie wir ihn verstehen − ist die große
Stille. Nur in dieser Stille können wir ihn erleben.„
Wieso denn? Ich gehe doch zu Gott, wenn es mir schlecht
geht und mich trösten lassen will oder?
„Das magst du so tun, aber nach unserem Verständnis ist
Gott unendlich viel mehr: Gott ist alles und nicht nur deine oder meine kleinen
Probleme. In diesen turmartigen Gebäuden jedenfalls treten wir erst zu Gottes
Bild, wenn wir seelisch gelassen und rein geworden sind − gewiß mit Gottes
Hilfe, aber noch nicht in seinem Allerheiligsten."
Und was tut ihr, um rein zu werden?
„Dazu sind die vielen steinernen Figuren geschaffen, die
überall die Wände bedecken. Sie stellen unsere seelischen Probleme und unsere
Freuden dar und vieles andere des täglichen Lebens. Viele andere Gefühle ..."
„Vielen Menschen
aus dem Westen fehlt eine Grundlage in der Erde, auf der Erde, sie sind nicht geerdet,
wie man sagen kann. Sie schweben über dem Erdboden. Ich weiß nicht genau wo und
wie, doch mir scheint, der Besuch von Khajuraho vermittelt unseren Gästen aus
dem Westen ihre Erdung. Wir Inder sind besser geerdet."
Ich merke, wie auch mir oft die Erde fehlt — trotz
unseres Landlebens. Mir scheint es zwar, daß unsere Kleidung zur besseren
Erdung beiträgt. Doch das ist nicht alles. Einige unserer Frauen tanzen viel —
und ich erlebe sie viel mehr geerdet, in sich ruhend, selbstverständlicher als
ich zum Beispiel. Ihr Tanz: die Tanzbewegungen sind nach unten gerichtet: auf
den Erdboden, in die Erde hinein. Eine schlägt ihre dicke Pauke dazu, die sie
mal selbst hergestellt hat. Oder richtiger, der Paukenschlag ist der Tanz —
wenn diese Pauken-Musik nicht wäre, gäbe es vielleicht gar keine Frauentänze,
gar keine Erdungstänze. Ein Mann spielt eine kleinere Flöte dazu — doch das ist
keine Erdung. Das ist an dieser Stelle Spielerei.
Ich höre mal:
„Einmal stand ich mit festen Füßen auf der Erde, da
fühlte ich wie unter meinen Füßen rote Kristalle in der braunen Erde waren,
eine ganze Druse. Und aus den Kristallen wuchs eine Art Schlauch nach oben in
meine Beine und bis in die Gegend der Blase, wo sie sich vereinigten."
In der Mitte unseres Langrockslandes gibt es einen hohen
Berg, der ist oben kahl, doch an den Hängen hat er überall Wald, meistens
Buchen. Nach zwei Jahren hatten die Inder da einen Vorschlag:
„wir möchten gerne an einem
heiligen Tag Indiens für ein paar Minuten dort oben ein großes Feuer machen,
eine Feier für Shiva und Shakti − nein richtiger für Shakti und Shiva, unsere
beiden großen göttlichen Kräfte."
Der Berg heißt der Kliet,
und zwei oder drei Wege führen von unseren Dörfchen da hinauf. Von da oben
können wir weit sehen, bis hin nach Kassel, also wir sehen den Dunst und Rauch
der Stadt, besonders der Industrie. Oft gehen wir mit den Kindern da hinauf,
und sie finden viele Gelegenheiten, in den Büschen und Felsen zu spielen, auch
Tiere beobachten, Kräuter kennen lernen . . .
BILD 21 Vater Manoks mit seinen Söhnen,
das Langrocksländchen vom Klietberg aus überblickend
Krishna erläutert, um was es bei der indischen Idee
geht.
„Im Süden unseres Landes gibt
einen Berg, der ähnlich aussieht wir der Kliet: er heißt der Arunātschala. Allerdings ist der
Arunātschala weitgehend kahl nur Gebüsch und Kräuter wachsen drauf. Da wird ein
Mal im Jahr ein großes Feuer zu Ehren von Schakti und Schiva entzündet, das
alle weit sehen können, und wer es sieht, hebt Arme und Hände und ruft diese
männliche Kraft Schiva und die weibliche Kraft Schakti an. Wer diese beiden
Kräfte ganz tief verehrt, wirft sich anbetend zu Boden. Für uns Krischna-Leute
ist das auch ein Anlass zu tiefster Verehrung − deswegen unser Wunsch."
Das ist nun eine besondere Sache, und nun wandert jeder
Langrocksländler immer wieder auf den Kliet um sich vorzustellen, wie das Feuer
sein wird, und wie wir das einrichten wollen. Lange Planungen und Ideen! Ja,
und um Holz zu sammeln. Es soll nur Fallholz von den hiesigen Bäumen sein,
nichts frisches, nichts herbei geschafftes, kein Abfallholz oder gar Abrissholz
von alten Häusern.
Nach einem Viertel Jahr Vorbereitungen treffen wir alle
uns auf dem Kliet. Da finden sich auch Gäste aus dem „Ausland„ − wie wir alles
außerhalb Langrocksland nennen −, sie sind gekommen, und ein Mann aus Fulda
beschreibt, wie er unser Fest erlebt.
„Eigenartig, eigenartig, was wir hier zu sehen bekommen ‒ und das mitten in Deutschland.
Da ist ein sehr sorgfältig gescheiterter Holzstoß, noch weitere Holzstapel sind
hier und da angebracht, auf ihren Verbrauch wartend. Ordentlich aufgestapelt.
Diese Menschen aus diesem neuen „Langrocksländchen" ‒ fast in Sichtweite von der
weltlichen Großstadt Kassel im Hessischen Bergland gelegen ‒ stammen eigentlich aus dem
Norden, meistens aus dem mittelalterlich grauen Rattenfänger-Städtchen Hameln.
Und sind kurz nach dem Krieg hier her gezogen ‒ frustriert ‒ wie es scheint ‒ von dem immer noch rechts und
traditionell orientierten, mehr ordentlich als herzlich sein wollenden
Deutschtum. Sie hatten in ihrer Heimatstadt eine britisch-schottische Garnison
und haben ihnen das Bunte des schottischen Männer-Rocks ‒ der Kilt genannt ‒ abgeguckt. Auch das
Röcke-Tragen selbst haben die ex-Hamelner übernommen. Und nun trägt hier jede
und jeder einen bunten Rock, allerdings ganz un-schottisch lang bis in
Wadenlänge oder länger. Die Kinder nur bis zum Knie oder gar etwas drüber.
Und wenn es kalt wird, in Herbst
und Winter, schützen sie ihre Beine mit langen, meist wollenen Strümpfen, und
oben ziehen sie wollene Pullover und Jacken an, und bunte Tücher um die Hälse.
Und wenn es fast unerträglich kalt ist, hüllen sie sich in lange Mäntel, die
über alles gezogen werden, so berichtete mir ein alter, weißbärtiger Mann, der
noch aus Hameln stammt, dort geboren wurde.
Die Initiatoren dieses Festes
sind ein paar Inder, die vor einigen Jahren hier zu gezogen sind. Und eine alte
Sitte ihrer Kultur hier pflegen möchten. Und ein mal im Jahr ein großes Feuer
zur Ehre ihres Gottes Schiva entzünden ‒ „nein, nicht Gott,„ sagte einer von ihnen, „denn einen Gott habt ihr Christen
ja, ich nenne Schiva lieber eine gttliche Kraft.„ Dieser indische Herr Krishna,
wie er heißt, hat schöne indisch-dunkle Haut und trägt ein gold-gelbes Tuch um
die Hüften und ein ebenso farbiges Tuch
um den Oberkrper. Seine Frau Radha trägt blau, und die anderen Inder
Orange-rot. Das hat alles seine Bedeutung, die ich aber nicht verstanden habe ‒ zu fremd.
Ebenso interessant sind die etwa
80 Deutschen hier. Alle Generationen sind vertreten von kleinen Kindern bis zu
alten Weißhaarigen. Wie gesagt tragen sie alle mehr oder weniger lange Röcke ‒ Hosen sind hier verpönt. „Die kommen uns ein wenig
unhygienisch und stinkig vor," sagt ein junges Mdchen von vielleicht 20, das ihren
wohl 15-jhrigen Bruder umarmt hält, der mit heller Stimme lacht und grinsend unsere
langen Hosen abschätzig mustert. Wie ich ihn frage, was er denn an den Beinen
trgt, zieht er seinen langen Rock hoch und weist auf die braunen Strümpfe an
seinen Beinen ‒ die ihm bis ganz über die Oberschenkel reichen und mit
einem Band am Knopf befestigt sind, „so haben wir´s alle hier, das
ist unsere Art. Dieses Band hängt an meiner Unterwäsche," sagt er.
dahinter das Feuer, nachts.
Tatsächlich, ich kann sofort
unterscheiden, wer Langrocks-Ländler ist und wer zu Besuch ist ‒ wie ich. Im tiefen Innern muß
ich diese Röcke-Sitte anerkennen, ich lerne sie bald wegen ihrer Schönheit schätzen, aber auch, weil
Luft an den Körper kommt, was ich auch gerne möchte. Dennoch hätte ich zu viel
Scheu, mich hier auf der Stelle umzuziehen ‒ oder auch nur in meiner
Heimatstadt oder einem fremden Ort im Rock rum zu laufen. Dennoch ‒ ich sollte es mal tun.
Es scheint, alle sind
angekommen. Es werden Lieder gesungen, von den Indern, in denen Worte vorkommen
wie „om namo Schivaya" und ähnliches. Und ein
Guitarren-artiges Instrument wird gezupft, in das ich mich bald verliebe, na
ja, in die Frau, die das spielt, auch. Hier ist eine alte Zeichnung, wie das
aussieht, die sie mir geben:
Es ist Nacht, Krishna geht zum
Holzstoß und zündet ihn an. Bald schießt eine hohe Flamme nach oben in den
Himmel. Die Flamme sieht aus wie eine hohe Säule, ganz aus Feuer bestehend. Sie
schießt hoch und steht im Himmel für ein paar Minuten und fällt dann wieder
zusammen.
Alle Inder, und dann auch die
Deutschen heben die Arme und legen ihre Handflächen zusammen, „om Namo
Schivaja", in Richtung zu der Flammensäule. „Das ist unsere Freundschaft und
Liebe zu den Indern. Ihr Gebet ist auch unser Gebet," sagt mir eine Frau, „ihre
Spiritualität ist auch unsere, so wie unsere Gebete auch ihre sind"
Zum Schluß stehen und sitzen wir
noch alle zusammen um das herunter brennende Feuer, still und mit wachen
Sinnen."
Eines Tages bekommen wir ein wunderbares Erbe: Ein Lehrer aus der Nähe von Fulda vererbt uns
einen modernen Plattenspieler und eine wertvolle Schallplattensammlung mit
klassischer Musik. Wer mag uns so etwas vererben? Der Lehrer aus einem
Knabeninternat in der Rhön hat das von einem verstorbenen Onkel geerbt ist
schon selbst wohl ausgerüstet mit allem. Und er beschließt, uns damit zu
beglücken ‒ was ihm auch gelungen ist. Er kommt mit dem allen zu uns und führt ein
paar Leute ein in den Gebrauch des Plattenspielers und in die Pflege der
Platten. In der Nähe der Mühle richten wir uns ein Musik-Häuschen ein, denn
dort bekommen wir die sicherste, gleichmäßigste Stromversorgung. Das ist
notwendig, damit sich die Platten nicht unrund drehen.
Nachdem alles bereitet ist, weihen wir unseren neuen
Schatz mit einem Musikabend ein. Zuerst spielen wir das Fünfte Brandenburgische
Konzert von Johann Sebastian Bach.
„Diese drei Platten habe ich mir mal in Kopenhagen
gekauft, es ist wegen seiner Feinheit und Klarheit mein
Lieblings-Brandenburgisches", sagt der Lehrer, „und ich schenke sie euch als
meine persönliche Zugabe." Vielen von uns kommen die Tränen, mancher weint vor
Freude und Hingabe. Es ist so schön. Und einige der jungen Leute lassen sich
sofort hinein fallen in diese Musik ‒ obwohl viele so etwas das erste
Mal hören. Er hat uns auch ein großes Bild von Bach mitgebracht, das wir in den
Musikraum hängen.
BILD 23 und 24 Portrait Johann Sebastian Bach
und unser neuer Plattenspieler
„Nun wünsche ich mir noch ein Cembalo und dazu guten
Unterricht," sagt ein Mädchen, Carola,
die mit ihren 12 Jahren bereits Flöte und Geige spielt. Und sie bricht in
Tränen aus, „das ist doch DIE Musik!" schluchzt sie. „Ich nehme den
Cembalo-Part und den Flöten-Part, beides."
Ein wohlhabender Freund ihrer Eltern schickt eine Musiklehrerin, um Carola zu prüfen. Und dann stellt er ihr ein Cembalo hin und schenkt ihr ein Musik-Stipendium: alle zwei Wochen kommt eine Lehrerin aus Fulda heran gereist und gibt Carola einen gediegenen Unterricht, nicht nur im Cembalo sondern in Musik überhaupt. Und nun hören wir so häufig Carola spielen auf den verschiedenen Instrumenten, meistens Bach ‒ und in unserer Gemeinschaft entsteht eine Musik-Insel, oder wie ein paar Kinder spaßend sagen, eine Bach-Insel. Denn ein kleiner Bach fließt halb um das Musik-Häuschen, wo das Cembalo steht. Und neben das Musik-Häuschen bauen wir ein Häuschen für die Lehrerin, wo auch Carola eine Ecke zum Schlafen hat.
Ein wohlhabender Freund ihrer Eltern schickt eine Musiklehrerin, um Carola zu prüfen. Und dann stellt er ihr ein Cembalo hin und schenkt ihr ein Musik-Stipendium: alle zwei Wochen kommt eine Lehrerin aus Fulda heran gereist und gibt Carola einen gediegenen Unterricht, nicht nur im Cembalo sondern in Musik überhaupt. Und nun hören wir so häufig Carola spielen auf den verschiedenen Instrumenten, meistens Bach ‒ und in unserer Gemeinschaft entsteht eine Musik-Insel, oder wie ein paar Kinder spaßend sagen, eine Bach-Insel. Denn ein kleiner Bach fließt halb um das Musik-Häuschen, wo das Cembalo steht. Und neben das Musik-Häuschen bauen wir ein Häuschen für die Lehrerin, wo auch Carola eine Ecke zum Schlafen hat.
Bald besucht uns der Lehrer aus dem Internat mehr und
mehr, immer zusammen mit ein paar Schülern. Eines Tages bietet er uns ein
Konzert an: mit einer Geigerin, die auch Lehrerin in dem Internat ist, will er
kommen und für uns Beethoven-Sonaten spielen. Da wir keinen Flügel besitzen,
spielt er auf dem Cembalo ‒ und ihr mögt es kaum glauben, die beiden spielen die Kreutzer-Sonate mit
dem Cembalo. Fräulein Hildergard
Krafft-von Delmensingen spielt die Geige, eine verehrenswürdige ältere
Dame, die mit einem Bein hinkt, dennoch im Stehen spielt. Der Lehrer am Cembalo
‒ dessen Namen ich vergessen habe ‒ führt uns ein in die Musik der
Sonaten, besonders der Kreutzer-Sonate. Carola und ein jüngerer Junge sind
wieder zu Tränen gerührt. Er beugt sich vom Sitz vor und scheint die Musik
verschlingen zu wollen. Nun bekommt der Junge, Gandor, eine Geige geliehen, und Unterricht geschenkt von demselben
Gönner.
DIESE GESCHICHTE IST NOCH NICHT ZU ENDE
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Anhang:
Literatur:
1) Ich verweise auf das Buch von
Carol Bowman, „Mama, ich war schon mal erwachsen!„, ISBN 978-3-939373-53-7.
4)
über carnatische Musik hier:
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