Weitere Briefe am Schluß.
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Hallo,
ich heiße Johannes und bin 1930 in einem Dörfchen im Schwarzwald geboren, und
dann dort aufgewachsen, und wohnte viele Jahre meines Leben in diesem Ort, und
seit zwanzig Jahren auch wieder, immer im selben Haus ― seht das Bild 1. Nun
habe ich im Internet Deine Geschichten zu Deinen Langen Strümpfen gelesen und
die zahlreichen Bilder gesehen. Ja, vieles ist mir aus alter Zeit bekannt, und
habe ich geschätzt. Na ja, ich schätze die Langen immer noch und trage sie mein
ganzes Leben ― mit Unterbrechungen. Und würde wünschen, daß wir Menschen wieder
mehr zu dieser schönen und praktischen Kleidung finden würden. Mir scheint, da
haben wir sehr ähnliche Wünsche.
Gerne
möchte ich meine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen beitragen, und wenn Du
magst, kannst Du meine Texte gerne zusammen mit Deinen veröffentlichen. Und mit
unseren Bildern ergänzen ― unsere? Ja, es war oft eine Graphikerin in unserem
Dorf zu Besuch, sie hieß Brigitte Krenzler (ein Synonym), und von ihr stammen
die Zeichnungen. Und die Fotos habe ich irgendwo gefunden, und ein oder zwei
sind von meinem Vater.
In
meiner Kinderzeit lebte ich nur in diesem Dörfchen. Dann ging ich mit 16 in
eine handwerkliche Lehre in die nächste Stadt. Unsere Familie wohnte in einem
alten, früher groß-bäuerlichen Haus, allerdings wohnten mit uns noch zwei, mit
uns befreundete Familien mit Kindern in dem Haus. Alles war groß, eine große,
mehrstöckige Diele in der Mitte mit einem gemeinsamen Ofen, genannt die Kunst,
von dem aus des ganze Haus geheizt wurde. Von der Diele aus ging die Haupttür
nach draußen in den weiten Gemüse- und Obstgarten. Von hier aus ein weiter
Blick ins Tal, nach Süden, mit den Schweizer Alpen im Hintergrund.
BILD 1 das Haus, im Hintergrund die Schweizer
Vorberge und die Berner Alpen
BILD 2 die Kunst (Ofen) in der großen, unteren
Diele, da sitze ich auf der Ofenbank, an den Stangen seht ihr unsere Strümpfe
zum Trocknen hängen.
Das
obere Stockwerk war mit dem Feuer im unteren Ofen durch einen Schornsteinzug
verbunden. Dort oben wohnten wir. Unsere Wohnung hatte einen Balkon in der
Diele mit einer Treppe nach unten. Das Haus lag am Hang, und von uns aus ging
auch eine Tür nach draußen. Dort war ein weiter Vorgarten und die Straße. Im
Vorgarten hatten wir Kinder eine große Spielecke mit einem Sandkasten.
Wir
waren vier Kinder, unsere große Schwester Susanne, sie war vier Jahre älter als
ich. Dann kamen ich und mein Zwillingsbruder Jennrich, und drei Jahre später
unser jüngster Bruder Wolf. Meine Geschwister leben alle noch, Jennrich mit mir
in diesem Haus, die anderen in einem Nachbardorf. Ihr könnt sie befragen, wenn
Euch etwas rätselhaft ist an meinem Bericht [doch versucht es gar nicht erst,
ihr werdet sie nicht finden, sie haben sich im Alter versteckt].
Im
Dorf war eine kleine Schule, ein fast noch kleineres Kirchlein und eine große
Gaststube, in die fast nur Wandergäste aus Basel einkehrten. Die Stadtleute
wanderten viel im Schwarzwald umher, wahrscheinlich war ihnen das in der
Schweiz zu eng. Na ja, während des Krieges kamen selten welche, aber danach
noch mehr. Sie hatten eine ähnliche Mundart wie wir, deswegen war es leichter
mit ihnen zu sprechen als mit den Norddeutschen. Allerdings habe ich das erst mit
18 durchschaut.
Ja
also unsere Kinderkleidung. Unser Vater war Pressefotograf und kam deswegen oft
in die Städte und brachte immer wieder neue Ideen für unsere Kleidung mit. Doch
auch die Vorstellung, daß Kinder am besten recht konservativ gekleidet sein
sollten ― und unsere Mutter bestand auf der konservativen Kleidung. Aus dieser
Mischung bestand unser Kleidungsstil, auch der unserer Eltern, und der anderen
etwa zwölf Familien im Dorf. Es war eine Mischung aus Dunklem und einigen
bunten Akzenten wie Halstüchern, Pullovern, Mützen, gelegentlich bunten
Strümpfen oder ähnlichem. Meistens warm und schützend. Und waldgerecht.
Auch
war unsere Wohnung recht bunt, zum Beispiel waren die Holztüren mit einem roten
Strich rundum verziert. Und ein paar bunte Gemälde gab es da. Und der Ofen, den
wir uns später bauten, hatte blaue Kacheln in das große, runde Weiße
eingelassen. So ähnlich wie dieser Ofen aus dem Ultental in Südtirol.
BILD 3 Ofen aus dem Ultental (bei Meran)
Wo
vom unteren Ofen aus die Rauch-Züge durch unsere Stube gehen, sind waagerechte
Stangen angebracht, an die Mutter Wäsche zum Trocknen aufhing ― und einmal
hingen da wie so oft lauter braune Strümpfe, so lang wie unsere Kinderbeine,
oder länger wie ich vermutete. Fragend sah ich zur Mutter, „ja, das sind eure
Strümpfe,“ sagte Mama. „Schau, die längsten gehören Susanne, die bekommst du
später.“ Da fühlte ich eine warme Welle durch meine Seele strömen ― Susanne´s
Strümpfe! Endlich mal richtige Strümpfe, nicht diese kurzen Kindersachen, die
kaum über das Knie hinauf reichten. Denn Susanne hatte immer sehr lange
Strümpfe, die oben in ihren Kleidern verschwanden. DAS musste wärmen! ―
wie auf Bild 7.
Bild 4 fremdes Foto aus der Schweiz, 1946, so kurz
waren unsere Kleinkinderstrümpfe oft - unangenehm, nicht richtig angezogen!
Oberhalb
unserer Wohnung und der Diele ist ein riesiger Dachboden, in den sich die
Rauchzüge öffnen. Also verteilte sich aller Rauch ― auch von den Herden ― in
den Dachboden über uns und verlässt ihn durch zwei Löcher in den Dachgiebeln.
So hatte sich im Laufe der Jahrhunderte eine dicke, glänzende schwarze Kruste
auf der Unterseite des Rieddaches angelagert. Diese Schicht ist sehr hart und
angeblich Feuer-unempfindlich. So kann das Dach nie Feuer fangen. Die schwarze
Schicht nennen wir Glanz-Ruß.
Uns
Kindern war es sehr streng verboten, diese Schicht zu verletzen. Wenn es doch
geschah, hätte es strenge Strafen geben können ― sonst kannten wir keine
Strafen, war nicht üblich bei uns. Und so war ein starkes Vertrauen zwischen
allen im Haus.
BILD 5 Susanne mit sechs Jahren: ich habe nie
verstanden, wieso wir als kleine Kinder Strümpfe bekamen, die nie das ganze
Bein bedeckten, aber später ab zehn wurden sie länger. Das war im ganzen Dorf
so, wir waren alle ähnlich gekleidet. ― Susanne liebte unseren Hund Anton.
Ich
war wohl gerade sieben oder acht Jahre alt und sah auf meine früheren
Kindheitsjahre mit etwas Wehmut zurück: jemand sagte dazu, „Goldene Jahre.“.
Denn Mama hatte uns gerade das Märchen vom Eisenhans vorgelesen. Und da war der
Prinz acht, und sein goldener Ball der Kindheit war verloren gegangen, und auch
das Vertrauen seiner Mutter, der Königin. Doch mit acht bekam man ordentliche
Kleidung, eben auch richtige Strümpfe, die lang genug waren. Seht die Zeichnung
von Susanne, wie sie klein war, da wurde es immer kühl oben am Schenkel, wenn
die Strümpfe zu kurz waren. Das ging mir auch so.
BILD 6 Nähmaschine
Und
dann saß Mutter an ihrer altmodischen Nähmaschine, die sie mit den Füßen
antrieb, und sie hatte ein paar neue Unterhemden für den Jennrich und mich
gekauft. Sie hatte eine Rolle mit fingerbreiten Leinenbändern, die sie auf die
Hemden über die Schultern nähte, und unten dran kamen ein paar Knöpfe. Die
Leinenbänder zur Verstärkung des Zugs der Strümpfe. Hier ist eine Zeichnung wie
auch Susanne das hatte, ich habe sie in Deinen Sammlungen gefunden. Unsere
Strumpfhalter wurden an die Knöpfe geknüpft, und unten an die Strümpfe. Da gibt
es ein Foto aus jenen Tagen, das ich euch hier zeige auf Bild 8.
BILD 7
Strumpfhalterhemd und sehr lange Strümpfe ― wie Susanne mit 12, Stefan´s
Zeichnung.
BILD 8 alte Strumpfhalter (genauer auf Bild 10),
1920er bis 1940er Jahre, nicht geliebt, diese Strümpfe waren zu kurz, alles war
nicht in guter Ordnung.
Wie
alle Kinder in jenen Jahren trugen wir immer Bein-lange Strümpfe, außer im
Sommer, solche Strümpfe, wie Du sie immer wieder beschreibst und zeichnest und
magst. Frauen trugen sie auch, Männer wohl seltener, und nur unter ihren langen
Hosen, im strengen Winter, wenn sie im Wald arbeiteten. Sonst sagten sie oft,
die sind doch nur für Frauen und Kinder, ein Mann trägt so was nicht, und ein
großer Junge auch nicht. Doch in unserem Dorf war das etwas anders. Ich
verstand diese üblichen Männer-Gedanken nie, sah das immer anders, will sagen
pragmatischer, bis heute. In unserem Dorf aber sah man oft Männer ― nur die
einheimischen ―, die kurze Hosen mit Langen Strümpfen trugen, wie wir Buben
auch. Doch Männer meistens in Schwarz. Ihre Oberbekleidung ― kurze Hosen und
Oberhemden und Jacken ― in mehr oder weniger mittlerem Grau, alles ziemlich
schlicht.
Unsere
Strümpfe waren aus einem weichen Gewebe oder Gewirke [sagt man das so?], später
habe ich heraus gefunden, daß es Baumwolle war. So oft hört man heute, daß die
Woll-Strümpfe so gekratzt hätten. Ja das mag ich glauben, denn andere Kinder
damals klagten auch darüber, doch es war klar, daß deren Strümpfe aus Schafswolle
waren, und die kratzt nun mal. Unsere Mutter war so liebevoll, daß sie immer
weiche Strümpfe und weiche Unterwäsche für uns fand, kaufte oder selbst
herstellte. Also waren auch die Strumpfhalterhemden weich und angenehm.
BILD 9 Junge mit Langen Strümpfen, Strumpfhalter,
Leibchen oder Strumpfhalterhemd, Strumpfhalter wie auf Bild 11. So war es
damals bei fast allen Kindern, nicht nur in unserem Dörfchen, doch auch dieses Mal sind die Strümpfe zu kurz gezeichnet, um die Strumpfhalter zu zeigen.
Ich
habe in Büchern oder im Internet nur wenige alte Kinderfotos gefunden, wo man
die Strumpfhalter, wie wir sie hatten, trugen, ich meine also nicht diese
Drahtschlaufen, die wir später hatten. Wir hatten ein oder zwei Knöpfe oben am
Strumpf und ein oder zwei Lochgummibänder, die an die Unterhemden geknöpft
waren. Unten Bild 10. Dann ab etwa 11 bekam ich das erste mal einen von
Susanne´s Strumpfhaltergürteln, und daran waren solche Halter, wie sie Mädchen
und Frauen auch hatten, Bild 11.
BILD 10 Foto Kinderstrumpf mit zwei Knöpfe und zwei
Strumpfhaltern, unter dem dunklen Strumpf trug ich im Winter oft noch ein
weiteres Paar, das hier drunter gezogen ist. Der dunkle Strumpf wurde mal
verlängert.
BILD 10 „erwachsener“ Strumpfhalter mit
Drahtschlaufe, von mir ab etwa 11 getragen
Unter
diese Strümpfe trugen wir im kalten Winter noch ein zweites Paar, oder darüber
sogar wollene Stümpfe. Und noch eine dicke kurze Hose, fast knielang. Und bei
uns im Schwarzwald ist es im Winter immer kalt, sehr kalt. Dennoch, Susanne
trug immer ein Kleid, und darunter eine wollenes Unterkleid, auch bei viel
Schnee und Frost, bei Schneesturm, und sie hatte ihre Lust daran. Oft über
allem einen dicken, langen Mantel und eine gestrickte Wollmütze. Sie vererbte
uns alles, was noch brauchbar war, und so trugen wir Buben oft ihre abgelegten
Kleider. Auch die Mäntel, auch Susanne´s Lange Strümpfe und Unterwäsche und
Wanderstiefel. Zuhause mochte ich sehr gerne im Kleid sein, und meine Brüder genossen
das auch. Als ich Susanne´s Wäsche, die sie mit 14 abgelegt hatte, bekam, hatte
ich zum ersten Mal echte Strumpfhalter (wie auf Bild 11), die an einem
Strumpfhaltergürtel hingen, von denen Jennrich und ich zusammen drei erbten.
Das war ein großer Genuß. In der Schule musste ich allen meine glänzenden
Strumpfhalter zeigen. Der Gürtel war so einer, wie Du ihn in der zweiten
Lauenstein-Geschichte abgebildet hast, den Du von Else geerbt hattest 4).
Im Nachhinein habe ich ihn als süß empfunden, und ich habe einen noch in meiner
Sammlung von Kinderkleidung.
Sehr
bald ― also ab 11 etwa ― liebte ich es, in den Hosenbeinen die Strumpfhalter zu
fühlen, ich meine mit den Händen, wenn ich darüber strich. Und sie anzusehen,
wenn ich mich an oder auszog. Im Laufe des Lebens habe ich viele Arten und
Formen der Strumpfhalter gehabt, und einige habe ich noch in meiner Sammlung,
auch historische. Das alles ist eine Art Fetisch im schönen und gesunden Sinn1).
Manchmal
ging ich in einem Kleid von Susanne zur Schule, dann musste ich eine Schürze
tragen, das war so üblich damals, alle Mädchen trugen zur Schule eine
Haushaltsschürze über ihr Kleid. Mal sehen ob ich dazu ein altes Foto finde.
Jedenfalls folgte ich dieser Sitte, und Jennrich auch. Wenn Ihr Euch die
Klassenfotos aus der Schweiz anseht, seht Ihr, was ich meine: 2)
Mir war es nicht wichtig, mich dauernd als Junge, als zukünftiger Mann
darzustellen, deswegen konnten ich die Mädchenkleider genießen ohne mich zu
schämen ― und die Bemerkungen der anderen Kinder haben mich nicht gestört. Die
Erwachsenen fanden unsere gelegentliche Sitte „süß“.
Die
Langen Strümpfe waren mir aber wichtiger als das Kleid. Sie wurden das
wichtigste Kleidungsstück meines Lebens. Zwischen den Strümpfen und der
Unterwäsche gab es bei den Mädchen meistens eine nackte Stelle ― die war
entweder peinlich oder ein angenehmer kühlender Reiz, doch sie mußten dann
etwas längere Schlüpfer anziehen, die den Strumpfrand überdeckten. Ich gestehe,
daß das dieser kühlende Reiz auch für mich etwas Besonderes war, weswegen ich
gerne Kleider trug. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Mädchen ganz
dagegen waren, sonst hätten sie sich mehr gegen die Kleider gewehrt, oder immer
lange Hosen drunter gezogen. Das tat Susanne jedenfalls, wenn sie mit im Wald
arbeitete, Reiser oder Pilze sammeln oder ähnliches, dann hatte sie lange Hosen
unter das Kleid gezogen, aber Kleid immer, war ihre Art.
Für
mich war das Kleid nicht in erster Linie, um wie ein Mädchen auszusehen,
sondern ich fand ein Kleid einfach gut, angenehm, manchmal bequem, auch mochte
ich den Mädchenstil genau so wie den Bubenstil. Ich mag es, wenn das weite
Kleid um meine Knie umher flattert, besonders beim Rumrennen auf der Straße
oder auf dem kleinen Schulhof unseres Dorfes. Wenn wir Kinder zuhause nicht in
Unterwäsche oder nackt gingen, dann im Kleid, lieber als in Hosen, zum Beispiel
wenn Besucher kamen. Ich achtete darauf, daß mein Kleid bis zu den Knien runter
reichte. Jennrich war in all diesen Dingen ähnlich wie ich eingestellt, Wolf
war anders. Obwohl Jennrich und ich gleich alt waren, fühlte ich mich meistens
als der etwas ältere. Ich begann eher als er mit irgendwelchen Neuerungen im
Verhalten, in den Denkweisen, den Freundschaften als er, und so weiter.
Jennrich kam meistens hinterher. Machte mich nach und übernahm dann sehr bald.
Im
Kleid wie ein Mädchen aussehen? Ja dennoch, auch das mochte ich, Mädchen sind
doch was Besonderes. Und das wollte ich auch ab und zu sein, will ich heute
noch, auch deswegen ziehe ich seit vielen Jahren nur noch bunte Röcke an ― wie
Du auch.
Von
14 bis 16 ging ich in eine Stadtschule. Dann kam die Lehre. Doch nie hatte ich
lange Hosen an, immer kurze Hosen und wenn es kalt war, Lange Strümpfe. Das war
selbst in unserem oft rückständigen Schwarzwald-Dorf ungewöhnlich, aber einige
Stadt-Buben haben es mir nach getan. ― Ich habe Tischlern gelernt. Auch da habe
ich meine Hosen nicht an´s Übliche angepasst ― außer zeitweise einer blauen
Schürze zum Schutz der Kleidung.
BILD 12 Jennrich und ich in unserer Kleidung,
Jennrich links, Johannes rechts. Unsere Strümpfe waren meistens länger als auf
diesem Bild. Ich mochte lieber graue Strümpfe.
BILD 13 Johannes in der Lehr-Tischlerei hobelnd
Während
der Lehre hatte ich ein Praktikum bei einem Mühlenbauer. Damals wurden die
letzten zwei oder drei Wassermühlen im Schwarzwald gebaut. Eine einfache
Neben-Aufgabe bekam ich: den Bau einer Wasserrinne für das Mühlrad. Der Müller
lenkte einen Bach um und leitete das Wasser in eine Holzrinne, die ich aus Brettern
gezimmert hatte und auf Böcke aus Stangen legte. Einen kleinen Teil des
Wasserstromes leitete ich ins Müller-Haus als Wasch- und Trinkwasser. Dazu
lernte ich, aus geraden Fichten- oder Tannenstämmen Rohre zu bohren, die in
einander gesteckt wurden. Und auch auf die Böcke gelegt wurden. Unser Haus im
Dörfchen daheim war ebenso mit Wasser von einer Bergquelle versorgt, daher
kannte ich das schon. Doch wie die langen Löcher durch die Baumstämmchen
gebohrt wurden, habe ich bis heute vergessen, irgendwie ein Wunder.
BILD 14 Mühle,
das kleine Häuschen für die Maschinen hat unser Meister gebaut, war neu. Das
Rad oberschlächtig ― das heißt, das Wasser treibt von oben, fließt über
das Rad, nicht unten durch (das wäre unterschlächtig).
Ich
blieb bei den Sachen, die wir als Kinder und Jugendliche trugen. Zum Beispiel
in den dreißiger Jahren hatte man einfach braune, graue, beige oder ― seltener
― schwarze Strümpfe, sonntags oft weiße. Nach dem Krieg kamen wohl farbig
gemusterte Strümpfe auf, jedenfalls brachte unser Vater ab und zu welche von
seinen Fotoreisen mit. Das war immer etwas Schönes. Doch während der Schule und
Lehre zog ich nur braune oder graue an, schwarze Strümpfe hatte ich nie ―
glücklicherweise, denn ich finde sie so düster und wirklich sehr altmodisch.
Doch, sonntags trug ich wie Susanne weiße Strümpfe, ging auch zur Kirche oft im
Kleid. Und zur Konfirmation ebenso, da störte mich diese starre Trennung
zwischen Mädchen und Jungen in der Kleidung ― wird bei uns im Dorf sowieso
nicht so starr genommen. Auch im Sommer immer in Langen Strümpfen zur Kirche,
in kurzen Hosen oder Kleid.
Die
schlichten Farben braun, grau und beige haben etwas Besonderes an sich: man
fühlt sich in den Farben wohl, die Beine fühlen sich wohl, heute würde ich
sagen: ich fühle mich sicher, vom Leben angenommen, im Leben zuhause,
standfest, wie ich schon schrieb. Ich trug am liebsten graue oder beige
Strümpfe, Jennrich braune. Heute, ich meine seit etwa vierzig Jahren, gibt es
Strumpfhosen zu kaufen und nur sehr selten Lange Strümpfe. Aber Strumpfhosen
ziehe ich mir nie an. Die sind gefühlsmäßig anders als Strümpfe, schließen nach
unten ― zur Erde ― sehr ab, man verliert den Kontakt zu Erde, gefühlsmäßig
meine ich. Doch bei Strumpfhosen gibt es da allerlei schöne
Farbzusammenstellungen, geringelte und so. Dann kaufe ich mir so eine
Strumpfhose und schneide sie oben ab, dann habe ich ein Paar Strümpfe, da ist
die Auswahl groß. Das „Höschen“ werfe ich weg oder schneidere mir daraus einen
Strumpfhalter-Gürtel. Da nähe ich dann vier Knöpfe an für die Strumpfhalter.
Meistens
trage ich Baumwollstrümpfe, da ist die Auswahl am größten. Wolle trage ich
selten, nur bei großer Kälte (sie kratzt heute nicht mehr), und gelegentlich
Feinstrümpfe im Alter etwas mehr. Und zwar dann, wenn ich tatsächlich mal etwas
wie eine Frau wirken will, eher vor mir als vor anderen. Dazu gehört dann ―
nach langen Jahren mal wieder ― ein Kleid oder Rock. Doch heute ziehen Frauen
sowas kaum noch an ― außer in unserem Dörfchen. Heute wird unsere Art sich zu
kleiden als „Tracht“ bezeichnet, und bald wird’s es wohl ein Museum dazu geben,
wie zu allen Besonderheiten.
Unsere
Mutter war immer sehr sorgfältig mit unserer Kinderkleidung. Andere Mütter
waren da schludrig so zu sagen, wie ihr auf dem nächsten Bild sehen könnt.
Heinz fühlte sich oft vernachlässigt.
BILD 15 So sah Heinz aus einem Nachbarhaus oft aus,
seine Mutter schaffte es selten, ihn in seiner Kleidung zufrieden zu stellen,
so schlampig wie hier mochte er das nicht gern.
Was
ich hier über unsere Kinder- und Jugendkleidung geschrieben habe, galt in etwa
für unser ganzes Dörfchen. Es lebten da ja nicht mehr als fünfzehn
Familien, meist Großfamilien, und wir hatten viel Nähe miteinander, also auch
viel geschmacklichen Austausch, feierten zusammen, arbeiteten zusammen,
spielten zusammen, wanderten zusammen. Dann gab es Leute aus anderen Gegenden,
die bei uns Ferien machten. Und einige Familien übernahmen das eine oder andere
von uns, auch die Kinderkleidung. Besonders für Schweizer war das eine Rückkehr
zu älteren Sitten, denn in der Schweiz waren zum Beispiel die Langen
Kinderstrümpfe für längere Jahre Sitte als in Deutschland, seht hier: 3).
BILD 16 Nachbar Florian in halb runter
gerollten Strümpfen (links noch nicht fertig gerollt)
Jennrich
und ich sind ja Zwillinge. Und wir sind einander sehr nahe, lieben uns wie ―
glaube ich ― sich selten zwei Menschen lieben. Was ich über meine Vorlieben in der
Kleidung schreibe, gilt meistens auch für Jennrich. Wolf ist da ganz anders, er
fühlt sich viel einsam, allein. Irgendwie ist er ein alter Wolf, wie sein Name
sagt. Wir gleichen das aus, indem wir ihn als unseren Kleinen etwas hätscheln,
also auch lieben, aber anders als Jennrich und ich uns lieben. Mit Jennrich
liege ich oft im selben Bett, wir schlafen zusammen, kuscheln zusammen, küssen
uns ― wie Du in der Ith-Hütte mit Ernst. Das hatte ich während meiner Kindheit
und Jugendzeit mit niemandem sonst.
Jennrich
wandert oft mit mir in den Wäldern und Schluchten des südlichen Schwarzwald.
Wir beobachten die Tiere und fühlen uns ihnen nahe, beschützen sie vor den
Jägern.
Unsere
Kleidungsarten helfen uns bei diesem Wild-Leben. Zum Beispiel wenn es heiß ist,
rollen wir die Strümpfe runter oder krempeln die Rockschöße unserer Kleider
hoch, oder, wenn es kalt ist, wickeln wir uns in die weiten Kleider ein und
ziehen die Strümpfe hoch, haben auch ein Cape, das wir um alles wickeln.
Meistens bringen wir Brennholz mit nach Hause. Deswegen tragen wir eine kleine
Säge mit uns, und eine Kiepe. Manchmal bleiben wir über Nacht in einem Gebüsch
liegen und schlafen dort und genießen unser Beieinandersein, eingewickelt in
eine große Decke.
Erwähnen
möchte ich, das Ganze ist für mich eine Art Fetisch geworden, in dem Sinne, daß
ich das alles genieße, mit Lust genieße, zum Teil mit eigen-erotischer Lust.
Ich erinnere mich der wunderschönen Zeiten meiner Kindheit und Jugend, die Nähe
zu Wald und Bäumen und Tieren, der Körpergefühle bei Wind und Hitze und Kälte,
der etwas anderen Kleidung im Vergleich zu den Leuten, die unser Dörfchen
besuchten. Die Langen Strümpfe und die dazu gehörenden Strumpfhalter sind mir
im Laufe der Jahrzehnte meine besonderen Lieblinge geworden, und insgeheim
wünsche ich mir, daß mehr Menschen ihre Freude daran hätten.
Deswegen
schätze ich Deine Arbeit sehr, in der Du im Internet so viele Geschichten und
Bilder und Hinweise veröffentlichst.
1)
Siehe mein Blog im Internet: http://mein-abenteuer-die-langen-struempfe.blogspot.de/2012/02/des-jarretelles-uber-die-strumpfhalter.html
.
2)
Klassenfotoarchiv: Buben im
Kleid, 2 Fotos: http://www.lehrmittelverlag-zuerich.ch/Shop/Klassenfotoarchiv/tabid/316/language/de-CH/Default.aspx
:in der Bezirksschule Baden 2.VI.1928 und in der Schule Amtshaus
Baden am 23.VI.1928. - Irgendwie hat sich das geändert, ich muß erst noch die neue Adresse suchen (10.VIII.2015)
3)
wie 2), auf sehr
vielen Fotos ist der Verlauf der Kleidungsmoden der Schulkinder zu erkennen,
von 1927 bis 1995: http://www.lehrmittelverlag-zuerich.ch/Shop/Klassenfotoarchiv/tabid/316/language/de-CH/Default.aspx
: klick "Suchen", klick "Jahr" usw.
4)
Zweite Lauensteingeschichte oben
in diesem Blog oder: http://madaceae.blogspot.de/2015/02/lauenstein-bei-forster-weck.html
.
Brief eines zweiten Lesers:
Hallo Stefan und
Johannes, auch ich möchte meinen Senf dazu geben, vielleicht etwas bitterer
Senf, mal sehen.
Ich heiße
Dieter und bin etwa so alt wie Johannes. Aber in einer großen Stadt geboren und
aufgewachsen. Auch bei uns trugen damals einige Kinder lange Strümpfe, aber das
war für die anderen Kinder oft ein Grund zum Spott. Warum eigentlich? Ich trug
fast nie welche, aber meine drei jüngeren Schwestern immer, eben:
„Mädchenkleidung“! Das war damals der Grund, daß Jungen sich dagegen wehrten.
„Ich will doch kein Mädchen sein!“ wurde damals oft gehört, „du etwa?“ Ich fand dieses Urteil zwar doof, zog aber dennoch keine "Mädchenstrümpfe" an.
Nur einmal,
mit etwa 13, zog ich mir zu einem Kinder-Fasching ganze Mädchenkleidung an ― Verkleidung! Dazu
gehörten auch lange Strümpfe mit Strumpfhaltern. Das war etwas eigenartiges,
all diese Dinge von einer größeren Cousine zu erleihen und anzuziehen. Lange
saß ich auf meiner Bettkante und sah mir das alles an und befühlte es, erst
nach einer Stunde oder so des Wartens und immer wieder Hinsehens begann ich
langsam und voller Unruhe und Scham den Halter-Gürtel und die beigen
Baumwollstrümpfe über zu streifen. Während des Festes merkte niemand, daß ich
kein Mädchen war, denn niemand kannte mich, da wir in einer anderen Stadt
feierten (wo meine Großeltern wohnten).
Das war das
Einzige. Nun aber eine andere Geschichte. Vor einigen Jahren erzählter mir ein
entfernter Verwandter über seine Zeit zum Ende des Zweiten Weltkrieges, März
1945, und schrieb es für mich auf:
„Ich war 16 als
der Krieg dem Ende zuging. Jedem in unserem Dorf war klar, daß dieser Krieg
schon lange nicht mehr zu gewinnen war. Mir auch. Die Front rückte immer näher.
Da sollten alle Jungen ab 16 eingezogen werden, erst als Flakhelfer ― und dann
als eine Ersatztruppe, genannt der Volks-Sturm, zusammen mit alten ― ansich „wehr-untüchtigen“ ― Männern. Wir sollten eine Uniform
anziehen, schießen lernen und solche Sachen. In unserem sehr abgelegenen und
altmodischen Dorf war es noch allgemein üblich, daß wir Jungen zu kurzen Hosen
lange Strümpfe trugen, wenigstens zur kühlen Jahreszeit. DAS war unsere übliche
Jugendkleidung!
Ich war sehr
aufmüpfig gegen die Idee, daß ich „das Vaterland verteidigen“ sollte und
versuchte, was mir einfiel, um nicht mitmachen zu müssen. Besonders gegenüber
der so allmächtigen feindlichen Armee ― bei uns die Amerikaner ― erschien mir
das nicht nur sinnlos sondern selbst-zestörerisch zu sein. Es gab niemanden im
Dorf, der mich überreden wollte, DOCH mit zu kämpfen.
Zur „Musterung“
schließlich ging ich sehr widerwillig. Ich hatte mir geschworen, mich so weit
es ging, zu weigern. Wie die meisten Jungen ging ich hin in den üblichen kurzen
Hosen und langen Strümpfen, in Sandalen. Von ein paar alten Soldaten wurden wir
verspottet mit Sprüchen wie, „so in Mädchensachen könnt ihr doch nicht für den
Führer in den Kampf ziehen!“ Mir kamen die Wut-Tränen, und ich schrie den
Spötter an, „wenn sie das schon
nicht können, dann wollt ihr das auf UNS abschieben? Ihr Feiglinge, ihr Memmen!
Ihr solltet uns verteidigen und
nicht wir euch!“ Es gab großen Aufruhr, und die Soldaten wollten mich schlagen,
doch sie konnten kaum laufen mit ihren ermüdeten Körpern, und wir Jungs waren
flink. Aus der Ferne zog ich ein Hosenbein hoch und zeigte auf meine nackten
Schenkel und die Strumpfhalter ― „hier, wie unsere Frauen, wie eine unserer
tapferen Frauen!“ Hier eine Zeichnung:
„So bin ICH, so
könnte ich auch kämpfen ― aber wozu dieser ganze Unsinn?“
Und ich behielt
alles an wie ich es hatte. Und zog eine durchlöcherte Uniformjacke über, die
sie mir gaben. Doch irgend etwas wie Waffe rührte ich nicht an, ich spottete,
„doch nicht in Mädchenstrümpfen, oder?“
Die Werber waren
verzweifelt ― doch Jahre später traf ich einen von ihnen wieder, und er gestand
mir, daß er höchste Hochachtung vor meinem Mut und meiner Art hatte: „Recht hattest du ja!“
Kaum eine Woche nach
dem Ereignis mit dem vergeblichen Versuch, uns zu werben, hatten die Amis
unsere Gegend kampflos besetzt ― auch der „Volks-Sturm“ konnte uns nicht
verteidigen.
Dann gab es ein
Verhör. Ein deutsch sprechender amerikanischer Historiker befragte uns Jungs,
und wir hatten weiterhin unsere kurzen Hosen und langen Strümpfe an, wie in
unserem Dorf üblich. Er bat, uns fotografieren zu dürfen. Und er machte viele
Fotos, auch einige, auf denen die Strümpfe zu sehen sind, „das kenne ich aus meiner Heimat nicht, das ist ja wie eine
uralte Volkskleidung.“ sagte er. Und auf seine Bitte zog ich mich aus und
zeigte ihm meine Unterwäsche, die Art, wie wir unsere Strümpfe aufhängten.
Davon machte er viele Fotos und zeichnete manches auch ― eben: Wissenschaftler.
Mal sehen, ob ich für den Blog Deines Freundes Bilder finden kann, die er mir
später schickte. Ich bitte aber, nur die Zeichnungen zu veröffentlichen, wo ich
nicht zu erkennen bin. Nicht die Fotos.
Er hat einen
wissenschaftlichen Artikel darüber geschrieben, den ich aber nicht bekommen
habe.“
Diese Erzählung von Dieter´s Verwandten ist von mir erfunden, aber es hätte vielleicht so geschehen können. Ich könnte mir denken, und hätte den Wunsch, daß so ein Ereignis tatsächlich statt gefunden hat. Im Buch „Wetzlar 1945“ von Karsten Porezog & Diether Spieß (1995) ist einiges über die „Kindersoldaten“ berichtet: http://www.google.de/imgres?imgurl=http%3A%2F%2Fwww.mittelhessen.de%2Fcms_media%2Fmodule_img%2F351%2F175874_1_articleorg_Junge_gross.jpg&imgrefurl=http%3A%2F%2Fwww.mittelhessen.de%2Flokales%2Fserien%2Fheimat-an-lahn-und-dill_artikel%2C-Fuer-den-Endsieg-auch-Kinder-eingezogen-_arid%2C235657.html&h=580&w=520&tbnid=e7toImRzuRPP-M%3A&docid=yJb6TwPRA90z1M&ei=093JVfeyM8GgsgGanJP4Bg&tbm=isch&iact=rc&uact=3&dur=14405&page=2&start=16&ndsp=23&ved=0CGkQrQMwF2oVChMIt-jG6PegxwIVQZAsCh0azgRv .
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